MARIVA - ES war einmal ein beobachtendes Kind
*Original D*
ES-Zeiten - III. Kapitel
irgendwo - nirgendwo
Erinnerungen eines beobachtenden Kindes
November 1943 - Mai 1945
Man war ausgebombt, die schönen Dinge der "Beletage" waren verbrannt. Man würde wohl wie alle Ausgebombten einen Antrag an das Kriegsschadenamt stellen, aber das Wichtigste war eine Unterkunft. Man fand eine kleine Wohnung in Mariendorf, dort gab es jedoch keinen Platz fürs Kind. Der Vater war im Krieg, die Mutter in der Traumstadt Babelsberg bei der "Tobis Filmproduktionsgesellschaft" und unabkömmlich als Regieassistentin und "script-girl" bei der Erstellung der sogenannten "Durchhaltefilme".
Als mit der Katastrophe von Stalingrad auch für Goebbels eine endgültige Niederlage des Krieges nicht mehr völlig auszuschließen war, entstand das Konzept der sogenannten Durchhaltefilme. Gemeint waren Filme, die den Durchhaltewillen der Bevölkerung stärken sollten; z.T. waren es reine Unterhaltungsfilme wie „Die große Liebe“ 1941/42, Rolf Hansen, mit den programmatischen Liedern, gesungen von Zarah Leander, komponiert von Michael Jary und von Bruno Balz getextet : „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n" sowie
Davon geht die Welt nicht unter,
sieht man sie manchmal auch grau.
Einmal wird sie wieder bunter,
einmal wird sie wieder himmelblau.
Geht's mal drüber und mal drunter,
wenn uns der Schädel auch raucht,
davon geht die Welt nicht unter,
die wird ja noch gebraucht.
Der sicherlich bekannteste und bedeutendste Durchhaltefilm ist Kolberg (1945, Veit Harlan), der eine Anekdote der preußischen Geschichte re-inszeniert: Das pommersche Städtchen wehrt sich unter seinem Führer Nettelbeck (gespielt von Heinrich George) gegen eine erdrückende Übermacht der napoleonischen Truppen – und siegt.
Man entsann sich der Urgroßmutter im fernen Eisleben, der Urgroßmutter, die damals in die Geschichte der Kirschkerne eingegriffen hatte.
Seit Generationen wohnte man am Marktplatz, versorgte als freie Handwerker die Stadt mit Fleisch- und Wurstwaren. Die Töchter der Familie lernten "Kaltmamsell" und verkauften die angerichteten Köstlichkeiten hinter der Theke, die Söhne wurden zunächst einmal Fleischermeister, auch wenn sie später dann zu anderen "Berufungen" kamen. Da die Alteingesessenen des Mansfelder Landes und der Stadt Eisleben wohl alle miteinander verwandt sind, soll die Familie auch mit Luther verwandt sein.
Als das "verschüttete" Kind von einer grauen Dame nach Eisleben gebracht wurde, war die Zeit dafür nicht besonders günstig. Der Urgroßvater bereitete sich gerade auf seinen Tod vor, - einen ganz natürlichen Tod nach einem langen Leben. Diese Art des Scheidens war eher selten zu dieser "Unzeit" in der man kaum mehr gewaltlos starb, und das Kind hatte schon viele "kriegsversehrte" Tote gesehen.
Dieser alte Mann lag nun in seinem Bett und wartete auf den Tod. Um ihn herum viel Familie, - nur Frauen jeden Alters. Alle wehrfähigen Männer ab achtzehn und bis zu sechzig Jahren waren „eingezogen“, gegen Ende des Krieges auch rüstige Männer über sechzig und der Geburtenjahrgang 1929 (die Fünfzehnjährigen).
Da man sich nicht weiter um das Kind kümmern konnte, wurde es an das Fußende des großen Bettes gesetzt mit der Auflage "Ja artig zu sein".
Der Urgroßvater war recht "guter Dinge"; er bat darum zu trinken und bekam eine warme Hühnerbrühe, die das Kind auch kosten durfte bevor es einschlief.
- Gegen Mitternacht - und trotz der nächtlichen Kälte - öffnete man aus Tradition alle Fenster der Stube. ES wachte auf und wusste, dass der alte Mann nun tot war.
Man brachte ES für den Rest der Nacht in ein kleines kaltes Zimmer im zweiten Stock des uralten Hauses.
Die Urgroßmutter war immer schon eine sehr starke Frau gewesen mit viel gerechter Autorität (zu Friedenszeiten verwaltete sie unter ihrem Dach einen Handwerkerhaushalt von mindestens zwölf Personen). Sie wusste es, sich bei Jedem Respekt zu verschaffen. Wenn sie mit ihrem Gehstock zweimal auf den Boden stieß, verstummte jede Gegenwehr.
In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erstaunte sich das Kind in Berlin bei Tante Paula, einer der Töchter der Urgroßmutter, dass die Geburtstage ihrer Schwestern Olga und Erna mit gleichem Geburtsjahr aber nur mit einem Unterschied von fünf Monaten im Kalender notiert waren.
Es wurde erwidert: "Im Zimmer unserer Mutter stand häufig eine Wiege, aber auch oft ein kleiner Sarg." Geboren wurden im Hause sechszehn Kinder, davon sind elf erwachsen geworden.
Es war jedoch seit eh und je Sitte, dass jedes unter dem Dach des Hauses geborene Kind zur Familie gehörte !!!
Gesellen und Lehrlinge logierten in den Dachkammern. Es war auch üblich, dass die jungen Mädchen vom Lande für mindestens ein Jahr in der Stadt "etwas Ordentliches" lernen sollten und sich dabei ihre Aussteuer verdienen konnten.
Die jungen Mädchen halfen im Laden und wurden auch zur Kalt-Mamsell ausgebildet. Die meisten Mädchen gingen nach einem oder zwei Jahren brav wieder zurück in ihr Dorf, um zu heiraten.
Im Hause logierten sie aber auch oben zusammen mit den Jung-Gesellen und Lehrlingen in - wenn auch getrennten - Dachkammern. So kam es schon vor, dass eine heimliche Adoption stattfinden musste, um ihnen die unbeschuldete Heimkehr nach Hause zu erleichtern.- Es gab also manchmal unerwartete Frühgeborene
??
Alle nannten sie "Frau Meisterin" oder nur Meisterin, denn als Frau des Meisters war sie der gute Geist und auch "der Herr im Hause". Das Kind nannte sie immer nur "Frau Mei".
ES war nun ganz alleine in einem fremden Bett zwischen eiskalten Laken, ärgerte sich über Gott und die Welt, den Winter, die Dunkelheit und das fremde Haus, in dem es knackte und leise krachte.
Doch da plötzlich - weit weg - eine kleine Melodie. Es stieg aus dem Bett und lief mit nackten Füssen den leisen Klängen entgegen. Auf der Treppe glitt es auf den gebohnerten Stufen aus und endete schmerzlich auf dem Po. - Dann kein Zweifel mehr. Wie ein sanftes Glockenläuten kam es aus der Stube der Frau Mei. Mit ein wenig Angst griff ES nach der Türklinke und trat zögernd ein. Das kleine Lied kam vom Nachttisch, wo unter warmem Lampenlicht eine Spieldose kreiste, darauf eine einbeinige kleine Tänzerin, die sich graziös mit weißem Spitzenröckchen und einem goldenen Stern auf dem Kopf zur Musik drehte.
Fasziniert vom Bild und von den Klängen blickte ES ängstlich zur Frau Mei, die mit dem Kopf nickte und das Federbett mit einer stillschweigenden Einladung hochhob.
Die Spieldose der Frau Mei brachte wieder ein wenig Versöhnung
in die schwierige Welt ringsherum.
An das wo und wann der Beerdigung kann Es sich nicht mehr erinnern, nur dass es kalt und windig war. Eigentlich sollte sich die graue Dame um das "verschüttete" Kind kümmern; doch da war wieder der Vetter vom Lande, ein wenig älter, grösser und durchtriebener. Er wusste von einem Geheimnis, dass alle Häuser am Marktplatz einen unterirdischen Gang zur Andreas Kirche hätten, wo man zwischen den Gräbern der Familie Mansfeld wieder ans Tageslicht gelangen würde.
Zuhause gingen beide in den Keller, wo es tatsächlich eine Tür mit einem stockdunklen Loch dahinter gab. Er versuchte es hineinzuziehen, doch das Kind bekam panische Angst, wieder verschüttet zu werden, schrie als ob es den Leibhaftigen gesehen hätte; stürmte aus dem Haus auf den Marktplatz und schrie, und schrie bis Frau Mei kam und es bei der Hand nahm.
Grabtumba von Hoyer VI. von Mansfeld in der St. Andreaskirche in Eisleben
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FAMILLE en HERITAGE
Nicht nur die uralte Bürgerschaft in der Stadt Eisleben verbindet unsere Familie mit dem großen Reformator. - Der Vater von Martin Luther(1483-1546), Hans Luder, , siedelte sich 1484 als Hüttenmeister in Mansfeld an und arbeite in der dortigen Kupfer- und Silbergewinnung. Luther verlebte in Mansfeld seine Kindheit und besuchte dort von 1488 bis 1496 die Schule. Unsere Familie - als auch die Familie Luther besaßen Flurstücke im Mansfelder Land beim Kloster Helfta. - All dies war in den Besitz der DDR übernommen worden, die dort Wohnungsbaumaßnahmen durchführte. - Als Ausgleichanspruch für diese Flurstücke (Flurstück ist in Deutschland ein amtlich vermessener örtlich abgemarkter Teil der Erdoberfläche !) wurden 2018 den vier Erben meines Großvaters mit Zinsen insgesamt € 570,- ausgezahlt.
So sieht der Marktplatz 500 Jahre nach Luthers Geburt aus - das Haus "am Markt 2" - rechts neben dem Rathaus und vor der Andreaskirche gehört zu unserer endlosen Familiengeschichte - es ist in der DDR enteignet worden und nach der Wende hat es zunächst die Deutsche Bank und dann die Sparkasse "gekauft". Anfang 2018 wurde den Nacherben der acht überlebenden Kinder meiner Urgroßmutter in Durchführung des DDR-Entschädigungsgesetzes ein Ausgleichsanspruch lediglich auf das Grundstück "am Markt 2" zugestanden und nicht auf dessen Bebauung
Der Erbengemeinschaft meines Großvaters waren laut Mail vom 16.04.18 des Landesverwaltungsamts Halle davon 1/8., d.h. mit Zinsen € 4.614,41 durch die Bundeskasse ausgezahlt worden. Obwohl Mariva rechtlich 50% des Betrages zustand, und obwohl sie bereits auf die Hälfte ihres Erbes zugunsten der Erbengemeinschaft verzichtet hatte, wurde sie ohne Erklärung aus der Erbengemeinschaft ausgeschlossen. Mariva hatte ihr ganzes Leben lang geglaubt, zur Familie zu gehören, - sie hatte auch das Glück gehabt, den gemeinsamen Großvater Karl HECHLER noch zu kennen, somit verzichtete sie auch ganz selbstverständlich darauf, sich ihren rechtlichen Anspruch in Höhe 2.307,205 EUR von Amts wegen auszahlen zu lassen, sondern ordnete an, dass die Erbengemeinschaft über den vollen Ausgleichsleistungsanspuch in Höhe von 4.614,41 EUR verfügen sollte, um dann je ein Viertel dieser Summe d.h. jeweils 1.153,60 € an jeden der vier Erben weiterzuleiten.
Wie ist diese Aufteilung erfolgt ? Nach mehr als einem Jahr seit der Auszahlung durch die Bundeskasse an den Verwalter der Erbengemeinschaft hat Mariva noch nichts erhalten. Wie erging es den anderen Miterben ????
1943 war es kein besonders kalter Dezember, die Landschaft war grau, flach und langweilig, die 140 km waren schnell durchfahren. Bei den anderen Großeltern angekommen, stand ein großer Tannenbaum einsam und ungeschmückt in der Halle, aber das Haus war leer !!!
Es gab die Mitteilung, dass der "Großvater" in Deutsch Krone noch nach dem Rechten sehen musste und man erst mal zur Tante Martha in ihren Kolonialwarenladen gehen möchte, wo dann alles geordnet würde.
Es war spät am Nachmittag, man ließ die Koffer im Haus und fuhr zur Tante Martha. Dort war man dabei - wie jeden Abend -, die Lebensmittelabschnitte mit Mehlkleister auf alte Zeitungsbögen zu kleben.
Die Mutter wollte gleich alle "Urlaubskarten" bei Tante Martha lassen und verstand nicht, dass es andere Vorschriften gab. Für das Kind mussten die jeweiligen Lebensmittel-Marken nach Bedarf abgegeben werden. Das wurde alles strengstens kontrolliert.
Tante Martha war von den Großeltern nicht vollständig informiert worden und man musste halt versuchen, das Beste daraus zu machen, außerdem wollte der über 70 Jahre alte Chauffeur endlich nach Hause.
Nach einem kleinen Abendbrot fuhr man zurück zur Villa der "Großeltern", fand ein kaltes Zimmer zum Übernachten und obwohl es Heiligabend war, dachte man aus Müdigkeit nicht daran, den Weihnachtsbaum ein wenig zu dekorieren (die Kartons mit den Glaskugeln und das ewige Lametta lagen auf dem Tisch); die Geschenke hatte man sowieso in Schwedt vergessen. - Die Mutter sagte, dass der Weihnachtsmann in den nächsten Tagen nochmal vorbeikäme, sie müsste aber am nächsten Morgen schnell wieder nach Babelsberg zurück, um einen Silvesterabend zu organisieren. Vormittags war das Kind allein im großen kalten Haus, aber irgendwann stand Tante Martha in der großen Küche und machte Milch mit Kunsthonig warm und hatte sogar süße Weihnachtsplätzchen mitgebracht. Sie hatte schließlich einen Kolonialwarenladen und auch zu Kriegszeiten noch einige Verbindungen.
Tante Martha und das Kind hatten viel Freude, das hohe Nadelholz endlich in einen festlichen Weihnachtsbaum zu verwandeln. Die Dekoration stammte noch aus den Kindheitstagen von Tante Martha, vom Ende des 19. Jahrhunderts. Man ging sehr vorsichtig mit den mundgeblasenen Glaskugeln in Rot und Silber um, die gläserne Baumspitze hatte sich schon vor langer Zeit in tausend kleine Splitter aufgelöst, so kam seit Jahrzehnten ein Strohstern ganz nach oben.
Nüsse und Äpfel kamen zusammen mit den Plätzchen in die bunten Teller und nicht an den Baum. Zuckerzeug zum Baumplündern am Dreikönigstag war 1943 nicht mehr viel vorhanden. Tante Martha hatte nichts zurückbehalten sondern alles vor Heiligabend ausverkauft.
Am späten Nachmittag kamen die "Großeltern", die noch in Scheidemühl vorbeigefahren waren, um - oh Wunder - eine Weihnachtsgans zu organisieren. Die wurde dann zum 2. Feiertag gebraten. Der "echte Sohn" kam aus Schwedt mit dem netten Cousin angereist, brachte die vergessenen Geschenke mit, und es wurde zusammen mit Tante Martha und ihrem übergewichtigen Mann ein familiäres Festmahl.
Das Kind war also keine "echte Enkelin", der richtige Großvater war schon 1917 im I. Weltkrieg gefallen.
(Geschichte zu lesen in <VOR Zeit - Grossvater, gefallen 1917>)
Viel erzählte man nicht von ihm. Er hieß Wilhelm wie der Kaiser und hatte zwei Schwestern: Luise und Martha.
Er hatte brav ein junges evangelisches Mädchen aus Pommern geheiratet, als sie jedoch im August 1914 die Geburt ihres kleinen Sohnes nicht überlebte, war bereits Krieg in der Welt. Man sagte Wilhelm, dass das Kind eine neue Mutter bräuchte, und da Deutschland und die allgemeine Mobilisierung jeden Mann brauchte, holte er sich - zum großen Erstaunen der Seinen - ein katholische Westfälin ins Haus und heiratete schnell der Ordnung halber, damit er seinem Dienst am Vaterland Genüge tun konnte.
Dann wurde in der Familie noch erzählt, dass er 1917 im Massengrab des ersten Weltkrieges gefallen sei. Dass man seinem kleinen Sohn wohl so viel Böses über katholische Stiefmütter erzählt hätte, dass dieser mit seinen drei Jahren weinend vier Kilometer zur Tante Luise gelaufen war. Man schickte die Westfälin heim, integrierte Geld und Gut des Bruders und den Neffen als dritten Sohn, um ihn sechs Jahre später in die Kadettenanstalt nach Berlin-Lichterfelde zu schicken.
Tante Luise und ihr Mann wurden ordnungshalber Vater und Mutter genannt und somit waren sie auch die "Großeltern".
Oma Luise war 1945 aus Pommern mit ihrem Ehemann in dessen Heimatort nach Oberbayern geflüchtet und bei einem Ferienaufenthalt in den fünfziger Jahren erzählte sie dann dort dem Kind stolz die Legende der Familie:
Es soll im 12. Jahrhunderts gewesen sein, dass alle deutschen Fürsten des "Sacrum Imperium" sich nach Osten ausdehnen wollten. Bei jeder Missernte oder anderer Not forderte man die "Dörfler" auf, nach Osten zu wandern, dort sei Zeit und Raum.
Ende eines Winters gingen gute zwei Duzend willige Siedler vom Harzer Umland los, ausgelost unter den Jünglingen und unversprochenen Jungfern, dazu ein kinderloser Schmied mit Frau, ein kleines Mönchlein, das sogar schreiben konnte, mitsamt einem freundlichen Stier, zwei Kühen, zwei Zugpferden, einer trächtigen Stute, einigen Ziegen, mehreren Hühnern mit Hahn, Saatgut und Zwiebeln und sogar fünf Hunden und noch vieles mehr, das wir nicht mehr wissen. Sie waren als Kolonisten angeworben worden, um gen Osten hinter die Oder zu ziehen, wo ihnen hohe Privilegien von den Fürsten versprochen wurden. Nach weniger als zwei Monaten war man vor Ort und durfte dort ein Waldstück roden, um sich anzusiedeln.
Einer der Siedler war einem der Mädchen zu nahe gekommen und das Mönchlein, das sogar schreiben konnte, traute den Jüngling "Godefroy" mit der Jungfer "Anne", und zeichnete es auf im Jahre des Herrn eintausendeinhundertsiebenundachtzig. Bis zum großen Brand Anfang des 18. Jahrhunderts wurde diese Urkunde in der Kirche aufbewahrt, dann wurde die Begebenheit nur noch als Legende über die beiden Urahnen in der Familie überliefert.
Man war immer im Holz geblieben: zunächst Holzfäller, dann Zimmerleut, dann Tischler und Schreiner und seit dem 17. Jahrhundert Kunstschreiner oder Ebenisten, jene Schreiner, die das wertvolle Ebenholz eines afrikanischen Laubaumes verarbeiteten dürfen. Im 19. Jahrhundert hatte man sich mit einer kleinen "Möbelmanufaktur" vergrössert. Einer der Söhne musste immer die Werkstatt weiterführen, die anderen durften den Beruf selber wählen, mussten aber das Haus verlassen. Wenn es nur Töchter gab, musste eine von ihnen einen Meister heiraten, der dann ihren Familiennamen annahm. - Oma Luise hatte jedoch schon vor dem 1. Weltkrieg einen bayrischen Tischlergesellen geheiratet und erbte dann ohne Namensänderung nachdem ihr einziger Bruder 1917 gefallen war.
Das Haus war groß und unübersichtlich, als ob Generation seit Jahrhunderten immer wieder an seinem An- und Umbau gewerkelt hätten. Es gibt keine Jahreszahl der Grundsteinlegung oder des Errichtens einer ersten Behausung. Es gab nur ein großes verwinkeltes Gebäude und man war ja hier seit eh und je!
Unten war da die große und hohe Halle mit einer breiten offenen Treppe nach oben zur Galerie, die im ersten Stock rings um diese Halle ging. Oben gab es unzählige Zimmer, man musste das seine nur finden. - In der Halle stand ein mächtiger Flügel für die Söhne, jeder Sohn hatte eine eigene, laute Melodie; wenn sie zu den Ferien nach Hause kamen, holte man sie von keinem Bahnhof ab, sie mussten schon selbst den Weg laufen. Zuhause angekommen, war es Sitte, dass jeder so laut er konnte seine Melodie spielte, dann wussten alle wer angekommen war.
Dann war unten noch ein Speisezimmer mit einem endlos langen Tisch, die Küchenräume mit Vorratskammern, eine Nähstube, eher ein Nähkästchen mit hübschen kleinen Möbeln auf verschlungenen Beinen; und dann ein riesiges Arbeitszimmer für den Hausherren mit antiken Möbeln und Bibliotheken.
Das Kind war kurzsichtig und verstand keinen, der versuchte, ihm im Nachthimmel den großen Bären oder kleinen Wagen und noch weniger Kassiopeia zeigte. Die Milchstraße blieb eine riesige Unbekannte, bis man ihm gestattete, sich auf allen Vieren die Tischplatte des enormen Schreibtisches anzusehen. Der Schreibtisch war das "Meisterstück" des Urgroßvaters und natürlich aus fast schwarzem Ebenholz : 250 x 100.
In der Tischplatte wurde der nördliche Nachthimmel mit allen wichtigen Himmelskörpern durch Elfenbeinintarsien bebildert und bezeichnet; Es konnte zwar noch nicht lesen aber entzifferte schnell die im tiefdunklen Ebenholz leuchtenden Inschriften.
Es durfte nun draußen spielen, allein und mit anderen Kindern; in diesem Winter 43/44 war es noch ruhig in Hinterpommern. Es lernte die klirrende Kälte spüren, - dass man in einen zugefrorener Graben einbrechen kann, - dass man das Heimkehren solange wie möglich hinauszögern muss, weil man das schreckliche Kribbeln in Händen und Füßen fürchtete, wenn diese sich wieder erwärmten. - Es gab da auch einen Pferdeschlitten im Stall ohne Pferd, doch es war den ganzen Winter wohl zu wenig Schnee gefallen, um ihn einzurichten und anzuspannen.
Der Sommer brachte endlos wogende Kornfelder (damals noch ohne chemische Halmverkürzer) mit mannshohen Halmen, in denen man sich verstecken und verlieren konnte. - Eines Nachmittags, mitten zwischen reifen Ähren hoch auf gelben Halmen, bei einer glühenden Sonne, die alles so gleißend aufheizte, dass man blauen Himmel nur vermuten konnte, stand dem Kind plötzlich ein Reh gegenüber. Beide erschraken und flüchteten davon.
Der Herbst brachte die Mutter zum "Ostwallschippen"; das Kind verstand nicht recht wie und wo, denn die Mutter war plötzlich fast immer anwesend. Das Kind wurde aber zufriedengelassen und konnte seinen Tagesablauf wie gewohnt verbringen. Dann kam der Vater auf Fronturlaub; ein Hausmädchen sagte, er hätte einen Halsschuss! Das Kind wurde stundenlang gesucht, bis man es in den verzweigten Kellergewölben fand und es die Erklärung abgab: ich will keinen Vati ohne Kopf!
Bald wurde der Vater wieder im Krieg gebraucht und die Kinder sangen draußen:
Marienkäfer fliege
Dein Vater ist im Kriege
Die Mutter ist im Pommerland
Pommerland ist abgebrannt
Marienkäfer fliege
In Babelsberg wurden weiter Durchhaltefilme gedreht und die Mutter musste zurück nach Berlin. Der Winter kam sehr früh und heftig. Anfang Januar informierten die Großeltern die Mutter, dass sie das Haus verlassen werden und sie das Kind abholen möchte. Sie mauerten dann viele Dinge im Keller ein, fuhren mit den vollbeladenen Autos davon und ließen das Kind mit einem Hausmädchen, das aber bei seinen Eltern schlief, allein im großen Haus. Damit es sich nicht so einsam fühlte, durfte es abends das kleine Radio in seinem Zimmer anlassen.
Die Mutter kam Ende Januar, man hörte bereits Artilleriebeschuss; sie packte vier große Koffer und man wurde von einem Lastwagen abgeholt. Die Koffer kamen auf die Ladefläche, Mutter und Kind in die Fahrerkabine, - die schöne Puppe hatte man vergessen. In der Stadt stieg noch eine Frau mit einem Jungen in die Fahrerkabine und viele, viele Leute auf die offene Ladefläche. Es ging erst mal Richtung Südwesten mit dem Ziel Frankfurt an der Oder, dort fuhren wohl noch Züge nach Berlin.
Auch in der Kabine war es kalt, die Kinder saßen bei den Müttern auf dem Schoss, die Köpfe in Konversationshöhe. Man unterhielt sich, oben die Mütter, darunter die Kinder, nur der uralte Fahrer war schweigsam. Im Allgemeinen halten Kinder ihre Mütter für schlau, wenn sie dann enttäuscht werden, müssen sie die Welt neu sortieren.
Beide Kinder hatten Strickmützen auf, der Junge eine braune mit Ohrenklappen und einem hübschen gelben Bommel, das Kind hatte auch eine mit Ohrenklappen aber in traurigem dunkelblau. Es sagte zum Jungen: ich habe auch noch eine schönere Mütze, aber es ist heute so kalt, dass mir die wärmere Mütze aufgesetzt wurde; und der Junge antwortete: ich habe auch noch eine schönere Mütze auf, aber meine Mutter hat mir die wärmere noch darüber gezogen. Sprachs und zeigte die zweite Mütze darunter, derweil beim anderen Kind eine kleine Welt unterging.
Man kam nur langsam voran, in dieser beißenden Kälte, im Schnee ging eine lange Prozession gen Westen, von Osten her hörte man den Donner der Artillerie. Es war noch hell als man in Frankfurt an die Oder kam; die lange Bogenbrücke überquerte einen breiten fast gefrorenen Fluss, in dem sich Eisschollen übereinander stapelten bevor sie ineinander fielen und ganz langsam weiterflossen.
Die Mutter schaffte es, dass ihre vier Koffer am überfüllten Bahnhof landeten, dann musste Platz in einem Zug nach Berlin gefunden werden. Sie nahm zwei Koffer und setzte das Kind auf die restlichen zwei mit dem Hinweis, nicht von der Stelle zu weichen.
Berlin, Lehrter Bahnhof 1945, Flüchtlinge aus Pommern, Ost- und Westpreußen
Es schaute nur auf die Koffer, nicht auf die Eile und mutlose Verzweiflung all der Menschen ringsherum. - In großen Notsituationen empfinden viele Menschen den fabelhaften Urinstinkt der gegenseitigen Hilfsbereitschaft als unbedingt notwendig. Verlorenen Kindern half man, nahm sie mit auf der Flucht vor dem Schrecklichen. Da saß nun das Kind allein auf zwei Koffern und wartete; vorbeieilende Menschen unterbrachen ihre Eile, um das Kind mitzunehmen, doch das Kind hatte die Anordnung auf die Koffer aufzupassen und sich nicht von der Stelle zu regen! - Als zwei Frauen mit eigenen Kindern nach ihm griffen, um es mitzuziehen, wusste es sich keinen anderen Ausweg, als in die helfenden Hände zu beißen.
Die Erinnerungen des Kindes vermitteln weder Schrecken noch Angst, denn beides sind in dieser Zeit Normalität, das Kind kennt nichts anderes
und wird zum kontemplativen Betrachter
dieser grausamen Gewohnheit.
All diese verstümmelten Toten,
all diese wimmernden Verletzten gehörten
zum Alltag.
Auch später wird keiner den Kindern sagen,
dass Frieden normal sein sollte.Am folgenden Tag im zerstörten Berlin angekommen,
Berlin Oranienstrasse nach dem Luftangriff am 03.02.1945
erwartet sie der Vater in voller Uniform, sagt, dass er nur kurz auf Fronturlaub wäre und schnell wieder nach Kurland zurück müsse (am 10. Mai 45 ging er dann von dort mit etwa 200.000 Deutschen und Letten in sowjetische Gefangenschaft). ES sieht zum ersten Mal die elterliche Wohnung und findet diese sehr klein im Verhältnis zu allen anderen Behausungen, in denen es bislang untergebracht war. - Am Abend war dann keine Zeit mehr für das Kind, und es kam für eine kurze Nacht ins Haus um die Ecke und auf die Besuchsritze bei Tante Traudel, einer Freundin der Mutter.
Der Vater hatte einen sehr guten Schulfreund ohne Familie, der im Allgäu zuhause war und dort ein kleines Häuschen besaß, man war eingeladen worden und hatte beschlossen, den neuen Hausschlüssel vorübergehend zu nutzen. Man musste jede gegenwärtige Möglichkeit suchen, um irgendwie "davonzukommen" ohne irgendeine Zukunft zu planen.
Früh am nächsten Morgen durchquerte man noch im Dunkeln das zerstörte Berlin - diesmal mit nur zwei Koffern - bis zu einem kleinen Bahnsteig, an dem ein langer Lazarettzug mit großen roten Kreuzen stand. Er war überfüllt mit Verwundeten und sollte gen Süden fahren. Die Mutter wurde noch durch einen Spalt an der Zugtür hereingezogen; Kind und Koffer wurden durch ein Fenster durchgereicht. Dann fuhr der Zug los. Den Vater sollte ES erst fast sechs Jahre später wiedersehen.
In diesem Waggon gab es noch Dinge zu essen, die sonst so selten wie Schokolade waren, denn die schöne Frau Mama wurde gerne von den nur leicht verwundeten und pflegerisch bereits gut versorgten Soldaten hofiert. Man hoffte, so südlich wie möglich zu kommen, Ulm, Ravensburg oder Kempten wäre nicht schlecht, um die Verletzten in die dortigen Krankenhäuser zu bringen.
Doch nach langer Fahrt ohne Zwischenfälle wurde in Thüringen der gut gekennzeichnete Lazarettzug von Tieffliegen angegriffen. Schreckliche, sich wiederholende Geschosssalven, quietschende Räder, die sich aus den Gleisen lösen wollen, kurze Stille, dann Hilfeschreie, ferne Schreie nach einer Mutter, viel Wimmern und dann laute Befehle von denen, die es besser wissen.
Der Angriff war auf einem hohen Bahndamm in Hanglage erfolgt. Für die Schwerverletzten war ein späterer Abtransport nur über die Schiene möglich. Es mussten Verletzte aus den beschädigten Waggons in intakte umgelagert werden. Den gehfähigen Personen wurde geraten, über einen schmalen Pfad eiligst das unten gelegene Friedrichroda zu erreichen, da weitere Bomberverbände im Anflug waren. Im Ort sei ein großer Bunker, den man gut erreichen könne.
Mutter und Kind hatten den Zug mit den zwei Koffern verlassen. Die Mutter wollte das Kind auf den Weg schicken, um mit dem Gepäck hinterher zu laufen. Doch das Kind weigerte sich, es setzte sich an den Bahndamm, blickte hinunter auf das Städtchen und schüttelte ununterbrochen den Kopf. Zum Davonlaufen war es zu müde, hier wollte es sitzenbleiben bis ans Ende der Tage, es wollte in keinen Bunker, es wollte draußen bleiben, nie mehr in einem dunklen Keller eingeschlossen sein und der Gefahr im Freien entgegensehen.
Da sie an jeder Hand ein Gepäckstück hatte und somit das Kind nicht fortzerren konnte, blieb der Mutter letztlich nichts anderes übrig, als sich auch hinzusetzen und auf das böse Kind zu schimpfen.
Friedrichroda liegt unten, winterlich eingebettet in sanfte Hügel; doch dann ist da wieder diese Gefahr in der Luft; - seit Es denken kann, kommt das Unheil von diesen großen grauen Vögeln. Und es bricht los, das infernale Feuerwerk - erst explodiert alles mit lautem Knallen - Staubwolken schnellen nach oben, dann folgen Donnerschläge, hellrote, gelbe, auch blutrote Feuerstöße nach oben, die dann breitflächig wieder in sich zusammen fallen. Der kleine Ort steht in Flammen, die er mit schwarzen Wolken verhüllt. Die plötzliche Ruhe trügt, denn als man glaubt, dass endlich Schluss ist mit der Hölle, sprengen sich verzögerte Bomben nochmals in die Zerstörung und töten die zu früh hervorgeeilten Helfer.
Es wird Herrn Klaus Henniges herzlich gedankt, dass er fast siebzig Jahre später als Zeitzeuge aus Friedrichroda erklärt: "Der Luftangriff begann am 06.02.1945 gegen 11.30 Uhr durch drei amerikanische Luftgeschwader, die ihre Bombenlast ursprünglich bei Lützkendorf/Leunawerke im Geiseltal abwerfen wollten,"
Das Geiseltal in Thüringen war der am stärksten bombardierte Landkreis in Deutschland. Die Bomben galten der zweitgrößten und modernsten Zuckerfabrik in Stöbnitz, dem Mineralölwerk Lützkendorf und den Anhaltischen Braunkohlewerken als Lieferanten der Leunawerke bei Merseburg (Herstellung von synthetischen Benzin durch Kohleverflüssigung = Deutsches Benzin) und die Buna-Werke in Schkopau bei Halle (Herstellung von Synthesekautschuk, Polyvinylchlorid (PVC), Trichlorethen, Formaldehyd, Tetrahydrofuran, Essigsäure, Essigsäureanhydrid und Aceton).
"und die infolge schlechter Sicht dann aber umkehrten, um die Bomben in Gotha, Ohrdruf und Friedrichroda abzuwerfen. Der Kurort Friedrichroda hatte von allen mitteldeutschen Kleinstädten mit 135 Toten (Einwohner, Gäste u. ausländische Arbeiter) die meisten Opfer zu beklagen." Im kleinen Ort mit ungefähr 5.000 Einwohnern wurden innerhalb weniger Minuten 74 Häuser verwüstet, über 300 Gebäude wurden beschädigt. Unter den Opfern waren 29 Kinder.
War wirklich Zufall und schlechtes Wetter
die Ursache für die
Bombardierung von Friedrichroda
oder wollte man den
Horten-Nurflügler
als "Wunderwaffe" zerstören ?
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs forschen viele deutsche Wissenschaftler an außergewöhnlichen und teilweise revolutionären Projekten. Die Raketen, U-Boote und Flugzeuge sollen eine Wende im Krieg herbeiführen. Das Konzept der Brüder Walter und Reimar Horten verspricht mehrere Vorteile im Vergleich zu den konventionellen Flugzeugtypen. Auftrieb, Aerodynamik, Radarunsichtbarkeit, geringerer Treibstoffverbrauch und - dank der neuen Düsenturbinen - höhere Geschwindigkeit sollen den Horten-Nurflügler zu einer "Wunderwaffe" in der Luft machen. Die mit der Produktion beauftragten Flugzeugwerke "Waggonbau Gotha" werden 1944 durch alliierte Fliegerbomben mehrmals stark beschädigt. Die Herstellung muss nach Friedrichroda verlagert werden. Die Abgeschiedenheit wollen die Gebrüder Horten nutzen, um den Nurflügler für den Kriegseinsatz zu entwickeln und zur Serienreife zu bringen. Eilig müssen dort Zwangsarbeiter eine unterirdische Düsenjägerfabrik bauen. Als die Amerikaner am 14. April 1945 das zerbombte Friedrichroda erobern, suchen sie sämtliche Gebäude ab. Im Rahmen der Operation Overcast erbeuten die US-Soldaten neben den Konstruktionsplänen für Nurflügler-Bomber und -Jagdflieger auch eine fast fertiggestellte Horten IX. Als militärisches Beutegut wird das Flugzeug nach Kalifornien verschifft. Dort forschen Ingenieure des Flugzeugherstellers Northrop ebenfalls an Nurflüglern und nutzen die wegweisenden Erkenntnisse der Hortens.(Quelle: www.mdr.de/echt/wunderwaffe-GNU-Lizenz für freie Dokumentation
Die Skulptur auf dem Friedhof in Friedrichroda wurde 1989 vom Friedrichrodaer Metallbildhauer Günter Reichert (1934-2009) geschaffen. Die 135 kleinen, unterschiedlich hohen Steln symbolisieren die Menschen, die unter den Trümmern starben.
Nach einer langen Todesstille im Tal und auf der Anhöhe steht das Kind auf und geht hinunter in die verwundete Stadt, gefolgt von der Mutter mit den zwei Koffern. Am Rande der klagenden Schrecken findet man eine kleine Pension, die beide aufnimmt. Und dort wird sich das böse Kind fast eine Woche lang weigern zu essen, - wozu, wenn doch alles im Inferno enden wird - wozu dann jedes Mal versuchen, nochmal davon zu kommen.
Die freundliche alte Pensionswirtin hat Mitleid und versucht es mit allen in dieser schwierigen Zeit verfügbaren Leckerbissen; letztlich findet sie im Keller noch einen kleinen Eimer voller uralter Hefeflocken, und nach fast einer Woche ist das fastende Kind bereit, erst einen, dann mehrere Löffel dieser trockenen Würze zu schlucken, und alles wurde besser !
Mitte Februar ist die Mutter dann doch sehr enttäuscht, dass ihr niemand zu ihrem 25. Geburtstag gratuliert, der Gatte hatte aus dem fernen Kurland kein Gruß-Telegramm geschickt und auch das viereinhalb-jährige bockige Kind hat es offenbar vergessen.
Zwei Wochen später hatte das Kind endlich still seinen Hungerstreik eingestellt und aß auch wieder anderes als Hefeflocken; man konnte also daran denken ins Allgäu weiterzureisen. Es gab da Ende Februar 1945 nur noch recht unregelmäßige Fahrpläne der deutschen Reichsbahn; doch ein älterer Bahnbeamter in Friedrichroda half der bildhübschen jungen Mutter, eine möglichst noch sichere Fahrstrecke über Meiningen, Würzburg, Ansbach, Donauwörth, Ulm und Kempten nach Haslach mit vielerlei Umsteigen auszusuchen. Man hatte ja nur noch zwei Koffer und ein wohl störrisches doch erneut nebenher laufendes Kind.
Dennoch traute das Kind schon seit langem niemandem mehr, auch nicht den Worten der Mutter. ES war durch die Alltäglichkeit der grausamen Kriegsschauplätze auf einer schaurigen Seite Grimmscher Märchen gelandet.
Die Mutter ging selten aus dem Haus, sie las in den zahlreichen Büchern der Regale, die überall in der I. Etage die Wände dekorierten. Das Kind war zum ersten Mal in seinem Leben eifersüchtig auf die Mutter, denn ES konnte noch nicht lesen, und die wenigen bebilderten Bücher gaben nur Auskunft zum Inhalt über die angefügten Texte. Wenn es die Mutter fragte, erhielt es zwar eine kurze Auskunft über das jeweilige Bild, aber die eigene Wissbegierde stieß jedes Mal verärgert an das Unvermögen, die Buchstaben zu verstehen. Es hieß dann "das lernst Du in der Schule" und auf das "und wann darf ich endlich zur Schule", kam freundlich das "Du bist noch zu klein".
Die Verwaltungen im III. Reich funktionierten wohl bis zum Schluss ausgezeichnet, denn die Postbotin brachte pünktlich Anfang März und dann auch noch im April 1945 die Nachsendung der Zahlungsanweisung zu "Ehefrau und Kind des deutschen Soldaten". Der Vater arbeitete vor seiner Einberufung im Wirtschaftsministerium und fast 85% seiner letzten Beamtenbesoldung wurde als "Familienunterhalt" gezahlt.
Die erhaltenen Reichsmark hatte die Mutter gut versteckt und im Geldbeutel nur das Haushaltsgeld gelassen. Am nächsten Morgen noch vor Ankunft der Bauerstochter fehlte die kleine Handtasche mit Geldbeutel von der Flurkommode. (Seit dieser Zeit und bis an ihr Lebensende nahm die Mutter nun ihre Handtasche mit ans Bett.) Es wurde mit der Polizei nur telefoniert, - keine Tür war aufgebrochen worden, nur seltsame gelbe Spuren führten vom Keller zur gut verschlossenen Haustür.
Es fehlte nicht viel nach dem ungewöhnlichen Einbruch, die Handtasche enthielt außer der kleinen Geldbörse für das Haushaltsgeld nur noch einen Kamm, einen Lippenstift mit Spiegel, ein kleines Parfumfläschchen und ein Taschentuch. Aber das Gefühl, dass man in das Haus eindringen konnte, ohne das Haustürschloss zu beschädigen, beunruhigte die Mutter, und das Kind hörte erneut von der jungen Bauersfrau, dass es "Deifelszeig un Hexewerk" sei, - und das Geschehen wurde - wohl auch schadenfroh - in Windeseile im Dorf verbreitet.
Am nächsten Tag sprach die junge Bäuerin im Beisein des Kindes mit der Mutter, dass es ganz besonders wichtig sei, den Fluch vom Haus nehmen zu lassen. Der alte Hexer im Dorf, der immer nur Gutes wolle, wisse was zu tun sei, - aber es sei immer so, dass "guter Rat halt teuer ist". Er wolle natürlich kein Geld für seine Gefälligkeit sondern nur eine kleine Zuwendung von fünf Pfund echtem Bienenhonig.
Die Mutter schüttelte verständnislos den Kopf und das Kind fragte, was denn Bienenhonig sei. Es hatte nie etwas Anderes als Kunsthonig gegessen und aß diesen so gerne, dass es selbst zwanzig Jahre später immer noch Kunsthonig dem Bienenhonig vorzog. Dass es Honig von Bienen zwar gab, wurde ihm erklärt, aber normal kaufen konnte man keinen, und selbst Kunsthonig gab es nur auf Bezugsschein.
Schuld an dem Mangel an Bienenhonig soll u.a. auch der nach dem I. Weltkrieg 1919 geschlossene Versailler Vertrag gewesen sein, zu den Reparationsforderungen der Siegermächte gehörten auch 75.000 Bienenvölker, davon 40.000 Bienenvölker "in Strohkörben", die laut Wiesbadener Protokoll vom 6.10.1921 an Frankreich zu liefern waren. - Die angespannte Versorgungslage im II. Weltkrieg bedingte einerseits Zwangsabgaben von Honig, andererseits gab es immer weniger "Bienenzucker" für die Imker. Durch die Entnahme von Honig aus dem Bienenstock entfällt die natürliche Futtergrundlage der Bienen. So entsteht die Notwendigkeit, über Winter und in Zeiten mit geringer Tracht "Bienenzucker" als Ersatzfutter zur Verfügung zu stellen.
Man säuberte die gelben Spuren von der Kellertreppe bis zur Haustür und hoffte, dass der Spuk ein Ende hatte. Doch am nächsten Morgen waren die kleinen gelben Flecken wieder da und führten im Keller zur verschlossenen Tür. Die Bauerstochter weigerte sich, diese zu entfernen. Sie glaubte an Teufelswerk, hatte Angst und drohte, das Haus nicht mehr zu betreten, solange der Spuk nicht aufhörte.
Nun war der Mutter klar, dass sie diese junge Bäuerin unbedingt brauchte und sei es nur zum Besorgen von Lebensmitteln, denn sie selbst hatte keinerlei Kontakte zu den Dorfbewohnern. Es gab praktisch nichts mehr auf die staatlichen Lebensmittelkarten, und auf dem Lande konnte man sich nur noch über Beziehungen versorgen. - Aber wie sollte man an Bienenhonig kommen, um dieser mittelalterlichen, abergläubischen Welt Genüge zu tun.
Gegen Geld und gute Worte gab es keinen Bienenhonig, dass man jedoch möglicherweise gegen die schöne Bernsteinkette der Mutter einen Tausch machen könne, man kenne die Freundin eines jungen Imkers in Riegen in Richtung Bodensee, die wohl noch Honig hätte. Ein paar Tage würde es jedoch dauern, denn das wären schon circa 50 km, aber die Radfahrerin müsse man bezahlen.Die junge Bäuerin sprachs, nahm die Kette mit und sagte zu, das Geschäft mit dem Hexer sobald wie möglich zu erledigen.
Nach drei Tagen und jeweils morgendlicher Säuberung der gelben Flecken brachte die junge Bäuerin einen stattlichen Mann mit ins Haus, der sich als Herr der weißen Magie vorstellte und sich artig für den Honig bedankte. Er hatte einen dicken Knüppel dabei; mit dem sollte die Mutter in der kommenden Nacht um punkt Mitternacht gewaltig und mindestens zwölfmal von innen auf die Schwelle der Haustüre schlagen.
Man hatte den Spuk über sich ergehen lassen, das verhexte Spiel mitgespielt, und nun blieb der Mutter gar nichts anderes übrig, als brav den Anweisungen - wenn auch widerwillig - zu folgen. Das Kind hatte alles mit angehört und wollte unbedingt zur Mitternacht geweckt werden; vielleicht war es der Mutter auch wohler, als sie dann nicht ganz alleine vor der Hausschwelle stand und schlug und schlug und schlug. - Doch nichts geschah !
Am nächsten Tag kam die Bäuerin wieder und berichtete, dass die böse Hex' schon morgens grün und blau geschlagen durch das Dorf gegangen sei !?
Der Großvater der jungen Bauerstochter wurde gebeten, doch die mysteriöse Tür im Keller mit seinem Werkzeug zu öffnen. Man fand mehrere zentnerschwere Säcke mit gelbem Schwefel in Pulverform; und der alte Bauer meinte, dass die Hex' das wohl für ihre Pülverchen brauchte, die sie als Heilmittel verkaufen würde. Er selber würde auch gerne vor der Blüte seine Obstbäume mit Schwefelblüte spritzen, doch es gäbe ja nichts mehr. - Die Mutter meinte, dass der Schwefel durch die Lagerung im feuchten Keller nicht besser würde und stellte ihn gerne zur Verfügung. Am Abend war der geheimnisvolle Kellerraum leergeräumt.
Sulfur sublimatum - Schwefelblüte: Schwefel ist eines der ältesten Heilmittel der Medizin, wurde vielfach zur Hautbehandlung verwendet, aber auch als Abführmittel. Für homöopathische Zwecke aufbereitet, steht damit ein sehr wirksames Heilmittel zur Verfügung, das bereits von Dr. Hahnemann häufig angewendet wurde und bis heute sehr gebräuchlich ist. Schwefel, ein konstanter Bestandteil von Eiweiß (einem lebenswichtigen Körperprotein), kommt in beinahe allen Körpergeweben vor, hauptsächlich aber in den Epithelgeweben, dem Zellgewebe, aus dem auch die Haut besteht. Schwefel hat daher eine besondere Tiefenwirkung in der Behandlung aller Hautleiden, vornehmlich aller chronischen Hautkrankheiten wie akute, trockene Ekzeme, chronische Dermatitis, Vereiterungen, Krätze, Räude, Bindehautentzündung, chronischer Durchfall, chronische Fieberzustände, Lungenentzündung, Harnfluss und chronischer Rheumatismus. - In der Landwirtschaft bewährt sich der ungiftige Schwefel bei einigen Apfelsorten zur Bekämpfung von Pilzkrankheiten, vor allem von Echtem Mehltau und Schorf im Obstbau, Pflaumenrost und Sprühfleckenkrankheit in Steinobst, Echtem Mehltau im Wein-, Gemüse-, Acker- , Zierpflanzenbau sowie an Eichen, zur Bekämpfung von Gallmilben an Himbeer- und Johannisbeerartigem Beerenobst, Kernobst und Pflaume. (diverse Quellen)
Und plötzlich von einer Nacht auf die andere explodierte der Frühling. In seinem kurzen Leben hatte das Kind so etwas noch nicht erlebt. Es hatte getaut, und am ersten Morgen roch es modrig nach Erde und feuchtem Moos, doch am Tag darauf sah man im Garten Schneeglöckchen und mutige Krokusse um die Wette blühen. Die Wiesen wurden grün und bedeckten sich kurz danach mit dem herrlichen Gelb der Schlüsselblumen als ob die Sonne über den Hügeln ausgelaufen wäre.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts waren im Allgäu auch im Tal bunt gemischte Bergwiesen, mit Lichtnelken, Teufelskrallen, Glockenblumen, Vergissmeinnicht, Knöterich, Klee, tausende von Schlüsselblumen oder Gänseblümchen. Heute steht die Schlüsselblume unter Naturschutz ! Denn durch die Zunahme der natürlichen Düngung (Mist und Jauche), wurden die Magerwiesen zu fetten Wiesen, was zur Folge hatte, dass der Löwenzahn mehr und mehr zunahm und die Bergblumen sich in diesem Milieu nicht mehr wohl fühlen.
Die Natur war dabei, für eine baldige gute Ernte sorgen, doch ein wenig Zeit musste man den blühenden Apfelbäumen schon geben, um reife Früchte zu spenden. Doch die Vorräte des Vorjahres waren auch durch Zwangsablieferungen verbraucht, und die Versorgungslage war selbst auf dem Lande zusammengebrochen. Nicht weit entfernt war eine genossenschaftliche Käserei, die Allgäuer Emmentaler herstellte und aufgrund des Nahrungsnotstands ihre Lager für die Bevölkerung öffnete. Man hatte kein Brot mehr - aber Käse zum Sattwerden.
Die laue Frühlingsluft ließ genüssliche Düfte dieser plötzlichen Blütenpracht erschnuppern und ein Glücksgefühl entstehen wie schon lange nicht mehr. Die Natur schien zu feiern, dass der Waffenlärm zu Ende gehen wollte. Doch als letztes Aufbäumen kam im April das Schreckliche nicht mehr nur aus der Luft sondern auch zu Lande.
?
Das Kind saß auf den Treppenstufen des Hauses, aß ein großes Stück Käse und blickte die Hügel hinauf zu den blühenden Obstbäumen. Es wurde geschossen, aber das kannte es ja ! Deutsche Uniformen liefen die Hügel hinauf, das Kind war kurzsichtig, konnte aber dennoch erkennen, dass anders uniformierte schwarze große Männer den deutschen Uniformen schießend folgten.
Dann kam die junge Bauerstochter und holte das Kind herein, verriegelte die Haustür und sagte in der Küche: "Das sind die Franzosen" und einige Wochen lang glaubte das Kind, dass die Franzosen schwarz oder zumindest dunkelbraun waren.
Es gab einen großen Anteil von "Tirailleurs Sénégalais" unter den Soldaten der I. französischen Armee befehligt von General de Lattre de Tassigny sowie unter denen der 2. französischen Panzerdivision des General Leclerc, die am 05. Mai das "Adlerhorst des Führers" am Obersalzberg in Berchtesgaden eingenommen hat. Die "Tirailleurs Sénégalais" waren seit 1857 bis 1964 Einheiten des Französischen Heeres aus dem Senegal und anderen Regionen Französisch-Westafrikas.
Am 30. April 1945 wird Lindau von den französischen Truppen kampflos besetzt. Lindau gehörte seit 1806 zu Bayern, und obwohl Bayern in amerikanischen Besatzungszone lag, wurde der bayrische Landkreis Lindau mit Teilen des Allgäus in die französischer Besatzungszone eingegliedert, begründet in einer Landbrücke zur französischen Besatzungszone Vorarlberg in Österreich (1945 - 1955).
In Bayern gibt es Landau an der Isar, nachstehender Befehl der französischen Militärregierung "Bekanntmachung betr. den Verkehr der Zivilbevölkerung" vom 21. April 1945 ist aus Landau in der Pfalz; aber er war sicher dann anwendbar auf die gesamte französische Besatzungszone. Es gilt zu vermuten, dass das "Radfahrverbot" als besonders ungerecht empfunden wurde.
Quelle Wikipedia: Diese Datei wurde Wikimedia Commons freundlicherweise von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen eines Kooperationsprojektes zur Verfügung gestellt.
Am nächsten Tag wollte es zu den frisch erblühten gelben Blumen hoch am Waldrand laufen, um der Mutter und der Bauersfrau je einen kleinen Strauß zu binden. Kurz vor den Bäumen machte es halt; ein starker süßlicher Geruch stieg in die Nase. Es waren drei Uniformierte, die dort wohl schon ein paar Tage tot unter den Bäumen lagen. Das Kind schaute auf die im sanften Moosgrün Liegenden und empfand wieder einmal in seinem Leben, dass es Dinge gab, die so nicht sein dürfen !
Die Erinnerungen des Kindes
vermitteln weder
Schrecken noch Angst,
denn beides sind in diesen Zeiten
Normalität,
das Kind kennt nichts anderes
und bleibt kontemplativer Betrachter
der alltäglichen menschlichen Gewalt
in überschwänglich erblühender Natur.
Elektrischen Strom gab es plötzlich nicht mehr, doch das störte das Kind nicht weiter, die Tage wurden länger. Morgens war es schon hell beim Aufwachen und abends wegen der langen Sommerzeit musste es dennoch vor Sonnenuntergang zu Bett. Kerzen gab es auch noch genügend im Haus, nur mit den Streichhölzern musste man sparsam umgehen. Auch das Benzinfeuerzeug der Mutter war leer und ihre Zigaretten schon lange aufgeraucht.
Gekocht wurde in der Küche mit Holz. Warmes Wasser für Mutter und Kind kam zunächst einmal am Tag noch über den Kohleofen im Keller, doch plötzlich war da auch kein Wasser mehr. Da nun keine lauten Feindseligkeiten mehr zu hören waren, muss irgendwo der Zufluss gekappt worden sein. Die meisten Häuser auf dem Lande hatten noch eine Pumpe im Hof, doch das geborgte moderne Haus nicht. So kam die junge Bauerstochter morgens mit zwei Wasserkannen; und die Mutter wurde von ihr gerügt, da sie die Toilette im ersten Stock mit zu viel Wasser spülte.
In der Nähe der dörflichen Schiede gab es auch noch einen Brunnen, der den Kühen als Tränke diente. Nun wuschen notgedrungen einige Dorffrauen ihre Wäsche in diesem Brunnen. Zum Bleichen kam dann die Damastbettwäsche auf die Wiese in die Sonne. Zwei schöne Sonnentage lang geschah nichts, doch am dritten Tag fehlten plötzlich auf der Wiese alle Bett- und Tischtücher.
Dem Kind wurde erzählt, dass die schwarzen oder dunkelbraunen französischen Soldaten die schönen weißen Blumen aus der Wäsche herausgeschnitten und ihre Zelte damit geschmückt hätten, und dass sich dann der Bürgermeister beim Leutnant, der bei ihm einquartiert war, beschweren wollte.
Nun war es aber, dass der Leutnant kein Deutsch und der Bürgermeister kein Französisch konnte. So kam man auf die "fremde Berlinerin", die in der Hauptstadt ja wohl Fremdsprachen gelernt haben müsse. Die Frau des Bürgermeisters sollte sie holen, war aber so empört, als ihr nach dem Klopfen die "Berlinerin" im Badeanzug sozusagen "nackert" die Tür aufmachte, dass sie ihre Botschaft nicht los wurde. - Die Mutter hatte bei dem herrlichen Maienwetter auf dem Balkon in der Sonne gelegen.
Da wurde nach der Bauerstochter geschickt, sie war ja nur vormittags fürs Saubermachen, das Kochen und die Wäsche der "Berliner" da, ansonsten hatte sie den eigenen Hof und den Großvater zu versorgen; ihre Mutter war schon früh verstorben, der Vater wie alle Männer im Krieg und jetzt wohl hoffentlich in irgendeiner Gefangenschaft.
Die Mutter versuchte zu erklären, dass ihre französischen Sprachkenntnisse minimal seien, doch man meinte, wenn sie sich "berlinerisch" anziehen und schminken würde, könnte sie vielleicht den Leutnant mit Charme davon überzeugen, dass seine dunklen Begleiter fortan nicht mehr den Dorfbewohnerinnen "an die Wäsche gehen" sollten. Zwei Tage später löste sich das Problem, indem alle hellen und dunklen Franzosen das Dorf über Lindau in Richtung Österreich verließen. Auch dort wurden Besatzungstruppen gebraucht.
Anfang Mai wird es nochmal "saukalt" draußen und drinnen, es schneit am späten Nachmittag, die armen Apfelbäume haben tagelang zwei weiße Häuptchen, eines aus eigenen Blüten und darüber der neue Schnee. Die Bauerstochter sagt, dass der Schnee die Blüten vorm Erfrieren schützen wird. Das Kind wünscht sich so sehr, dass die Äpfel gerettet werden, es hat schon so lange keine mehr gegessen.
Am 07. Mai bei beginnender Dunkelheit kommt gewaltiger Geschützlärm aus Richtung Bregenz : geht es wieder los mit Tod und Teufel ? Später erfuhr man, dass es die amerikanischen DCA-Truppe war, die Munition ihrer Flugabwehrpanzer und ihrer Bofors Flak-Panzerkanonen leergeschossen hat, um den Waffenstillstand zu feiern.
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Im zerstörten Deutschland wusste man wohl schon lange, dass auch dieser Krieg verloren war, doch nur die Wenigsten sprachen es offen aus; man schickte zuletzt noch die 15-jährigen an die Front und stellte ideologisch gelenkte 14-jährige an die Flak-Geschütze.
Das Radio brauchte am 08. Mai 1945 noch unbedingt eine Steckdose und ohne Strom kamen keine Nachrichten. Deutsche Zeitungen wurden kaum mehr gedruckt, in den von sehr alten Männern und auch einigen Frauen verwalteten Dörfern auf dem Lande war der Fluss der Informationen zwar verlangsamt, doch jeder Erwachsene erkannte, dass das 1.000-jährige Reich nach zwölf Jahren untergegangen war.
Für kleine Kinder, die schulisch noch nicht beeinflusst oder gar fanatisiert werden konnten, galt Krieg und Tod und Teufel als normal, sie hatten nie etwas Anderes erlebt. Die Angst hatten sie verinnerlicht, sie erschreckten nur noch, wenn es gefährlich wurde. Das Kriegsende konnten sie nicht verstehen, da ihnen der Anfang nicht bewusst war. Nur die Vorzeichen hatten sich geändert, die Gefahr wurde nicht mehr vom Himmel aus bombardiert, die Gefahr wurde horizontal. Stets wird Krieg die Kulisse ihres Lebens bleiben, wer hätte ihnen auch erklären wollen, wie sich Frieden anfühlt ?
Foto aus Wikipedia: Deutsche Kinder aus den polnisch verwalteten Gebieten
in einem kleinen Ort Westdeutschlands angekommen.
August 1948.
Im Jahr 2.000
werden sie über sechzig sein,
falls kein neuer Krieg
dazwischen kommt !
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