MARIVA - Es war einmal ein nachdenkliches Kind
Original D
ES-Zeiten - IV. Kapitel
Nachdenkliches Kind
Mai - Dezember 1945
Hoffnung auf Trümmern
War da wirklich etwas Hoffnung : die Großeltern waren 1919 mit dem Friedensvertrag von Versailles bestraft worden, der die Wurzeln für den zweiten Weltenbrand enthielt, nach dem Inferno erhalten die Eltern vier Besatzungszonen, dankend einen Marshallplan, ein in zwei Staaten und zwei Weltanschauungen geteiltes Deutschland, in dem im kalten Krieg sich hochbewaffnet Familien gegenüberstehen, sowie eine Nachkriegszeit vom 08. Mai 1945 bis zum 15. März 1991. Deutschland darf sich nach dem Fall der Berliner Mauer am 09.11.89 dann auch am 03. Oktober 1991 wieder vereinigen
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag (vollständiger amtlicher Titel: Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland; daher auch kurz als Regelungsvertrag bezeichnet) ist ein Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik sowie Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Er machte den Weg für die Wiedervereinigung Deutschlands frei, wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet und trat am 15. März 1991, dem Tag der Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde, mit einer offiziellen Zeremonie in Kraft. Als die politisch geforderte und rechtlich notwendige Friedensregelung mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg markiert der Zwei-plus-Vier-Vertrag das Ende der Nachkriegszeit. Deutschland einschließlich Berlins ist somit nach 46 Jahren endgültig von besatzungsrechtlichen Beschränkungen befreit – und ist ein maßgeblicher diplomatischer Beitrag zur Friedensordnung in Europa. Bei dem Vertrag handelt es sich um einen sogenannten Statusvertrag, dessen Rechtswirkungen sich auch auf dritte Staaten erstrecken.Quelle: Wikipedia
Es heißt heute, dass es in der französischen Besatzungszone (vermutlich?) keine Durchgangslager für Flüchtlinge oder DPs (displaced persons wie es damals hieß) gab, da sich die französische Militärregierung generell gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen in "ihre" Zone sperrte.
Doch gab es beim Eintreffen des französischen Militärs in den Orten der späteren französischen Besatzungszone bereits Personen, die vor Kriegsereignissen geflohen waren; Mutter und Kind gehörten dazu, da ihre Meldeadresse Berlin war. Für die Besatzungsmacht hieß das wohl, dass Berlin für die normalen Lebensumstände wie z.B. "Lebensmittelkarten" zuständig war, somit die "displaced persons oder personnes déplacées" an ihren normalen Wohnort" zurückzukehren hatten.
Vor dem Hintergrund von Problemen bei der Entwicklung des Aggregats 4 in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde nahmen Walter Dornberger, der Chef der Raketenabteilung des Heereswaffenamtes, und Wernher von Braun, technischer Direktor in Peenemünde, im September 1941 mit der Luftschiffbau Zeppelin in Friedrichshafen Kontakt auf. Ab April 1942 bestand eine Außenstelle der Heeresversuchsanstalt in Friedrichshafen, die die Produktion von Einzelteilen sowie die Endmontage der Rakete in Friedrichshafen koordinieren sollte.
Bereits im Juni 1943 war ein Vorkommando von etwa 100 KZ-Häftlingen in Friedrichshafen eingetroffen. Das Vorkommando errichtete das Außenlager, wozu vom vorhandenen Zwangsarbeiterlager „Don“ ein Teilbereich abgegrenzt wurde. Auf dem unmittelbar neben dem Werksgelände der Zeppelinwerft gelegenen Gelände entstanden sechs Unterkunftsbaracken, eine Sanitärbaracke sowie eine als Küche und Krankenstation genutzte Baracke. Das Außenlager war mit elektrisch geladenem Stacheldraht, einer Flutlichtanlage und Scheinwerfern gesichert.
Als Zentrum der Rüstungsindustrie des nationalsozialistischen Deutschen Reiches wurde Friedrichshafen das Ziel alliierter Luftangriffe, während der die KZ-Häftlinge nicht die Luftschutzkeller aufsuchen durften. Sieben von elf Luftangriffen auf Friedrichshafen trafen das Außenlager. Ein Angriff am 27. und 28. April 1944 zerstörte einen Großteil des Außenlagers, ein weiterer am 20. Juli fast alle Industriebetriebe der Stadt. Die Zahl der in Friedrichshafen getöteten Häftlinge ist unsicher. Namentlich bekannt sind 40 Häftlinge, wovon 31 bei den Luftangriffen starben. Unterlagen des Internationaler Suchdienst des Roten Kreuzes zufolge starben bei den Luftangriffen im April 89 und im Juli 72 Häftlinge. Anderen Angaben zufolge starben insgesamt mindestens 176 Gefangene infolge der Luftangriffe. Nach den Luftangriffen kam die Produktion der Raketenteile in Friedrichshafen zum Erliegen. Offiziell wurde das Außenlager Friedrichshafen am 25. September 1944 aufgelöst.
Nach Kriegsende wurden provisorisch instandgesetzte Baracken des Außenlagers vorübergehend von Flüchtlingen und Vertriebenen genutzt. Später entstanden auf dem Gelände Wohnblocks für Familienangehörige der französischen Garnison in Friedrichshafen, die nach dem Abzug der französischen Streitkräfte 1992 als Sozialwohnungen genutzt werden. Quelle: Wikipedia - KZ Aussenlager Friedrichshafen
Als es kein "Deutsches Reich" mehr gab, versuchte die Mutter, Arbeit zu finden und ist wohl deshalb "auffällig" geworden. - Das Kind erinnert sich an die Einlieferung in ein Lager: neben dem Eingang gab es einen Raum der zur "Entlausung" diente. Das DDT- Insektenpulver ging mit einer riesigen Spritze erst in die Haare, dann durch den Kragen und den Hosenbund an den ganzen Körper und in die Schuhe; schließlich waren auch die Koffer dran.
Einweisung in eine Baracke mit drei-stöckigen Strohsackbetten, Mutter und Tochter erhielten zusammen "einen III. Stock". An der nahen Barackendecke hingen kleine schwarze Tiere. Das DDT hatte wohl nicht überall hin gereicht. Am nächsten Tag verschwand die Mutter schon früh morgens und hatte es am Nachmittag wohl geschafft, für beide einen sogenannten Passierschein zu erhalten.
Sie erklärte dem Kind, dass sie Arbeit und Unterkunft suchen musste und das Kind deshalb noch am gleichen Tag für kurze Zeit zu einer Bauernfamilie müsste, wo es auch andere Kinder zum Spielen gäbe. Dort gab es weniger hohe Doppelstockbetten für fast ein Dutzend Kinder in einem alten Stall aber mit ähnlichen Strohsäcken als Unterlage. Die Zudecke war etwas dünn, doch es war Mai und nicht zu kalt. Man konnte ja nachts auch einfach den Mantel überziehen.
Alle Kinder aßen im Schlaf-Stall an einem langen Tisch auf dem zwei Blech-Schüsseln mit dünner Suppe standen, jedes Kind hatte einen geschnitzten Holzlöffel und musste zusammen mit den anderen aus der Schüssel essen. - Es hatte so etwas noch nie gesehen und wenn auch der Hunger groß war, an diesem Abend sowie beim Haferbrei am nächsten Morgen, war es ihm nicht möglich, in der gleichen Schüssel zu essen.
Tagsüber stand für die Kleinen meist Unkraut jäten, Hühnerstall säubern, Hof fegen oder Kartoffeln und Zwiebeln schälen auf dem Programm, die Größeren mussten sich bei schwerer Hofarbeit nützlich machen. Am nächsten Abend half der Hunger die Scheu zu überwinden und ES aß aus der Schüssel zusammen mit den Anderen.
Der Aufenthalt dauerte einige Wochen, das Kind sprach kaum, nur wenige konnten Hochdeutsch, es waren hier die verschiedensten deutschen Dialekte zusammengewürfelt worden. Auch die Bauersleute gaben ihre Anweisungen zwar mit sehr lauter Stimme aber in noch unverständlichem Schwäbisch, so dass es häufig zu Missverständnissen kam, die dann schnell mit dem Stock geahndet wurden.
Dann stand plötzlich ein großer Mann mit seltsam weiten NICKERBOCKERHOSEN vor dem Kind und sagte auch auf Schwäbisch "ich bin der Onkel Juhn und hol' Dich zu deiner Mutter". Aufgrund der guten Nachricht kam keinerlei Misstrauen auf, und während der "Onkel Juhn" das Kind bei den Bauersleuten wohl noch mittels Obolus auslöste, stieg es hurtig in das Automobil mit laufendem Motor.
Ein Gallier in Knickerbockers,
der sich gegen den nationalsozialistischen Stiefel wehrt
und auf den Aufruf zum Widerstand
des Generals de Gaulle vom 18. Juni 1940 hinweist.
Als im Netz nach "Nickerbocker" gesucht wurde, wurde u.a. obiger Auszug aus einem Schriftstück mit Zeichnung vom August 1940 vorgeschlagen. Da er inhaltlich und zeitlich zum Thema passt, wurde er integriert. - Knickerbocker ist die Bezeichnung für eine etwa wadenlange Überfallhose mit weiten Beinen.
Dann fuhr man hinunter zum Bodensee, und der neue Onkel erzählte, dass die Mutter bei seiner Frau und ihm ein möbliertes Zimmer gemietet und traurig die Geschichte des seit Wochen auf einem Hof untergebrachten Töchterchens erzählt hatte.
"Meine Frau, die Tante Juhn und ich haben besprochen, dass Du auch bei uns wohnen kannst, und die Tante Juhn für Dich sorgt, während Deine Mutter arbeitet. Deine Mutti weiß aber noch nichts davon, es soll heute Abend die große Überraschung sein."
so friedlich sah Friedrichshafen am Bodensee
wohl in den dreissiger Jahren des 20. Jahrh. aus
Französische Truppen erreichten - von Westen her kommend - am 21. April 1945 erstmals den Bodensee und besetzten binnen zehn Tagen das nördliche Bodenseeufer. Die in Trümmern liegende Stadt Friedrichshafen, das Rüstungszentrum der Region, wurde am 29. April kampflos eingenommen. Das Hauptquartier der französischen Ortskommandantur wurde im fast unzerstörten, repräsentativen Kurgartenhotel einquartiert. So zog am 29. April 1945 der Stab des 11. afrikanischen Jägerregiments in das ehemalige herzogliche Schloss ein, das bis 1956 Sitz der französischen Kommandantur blieb.
Und die Mutter hatte eine Anstellung als Bedienung im französischen Hauptquartier Kurgartenhotel gefunden; an diesem Abend jedoch kam sie erst spät von der Arbeit nach Hause, so dass das Kind alleine einschlief, aber seit langem wieder in einem schönen Federbett.
Der nächste Morgen war ein Sonntag, doch die Mutter musste wieder zur Arbeit, so dass hastig zusammen gefrühstückt wurde: es gab seit langem wieder Milch fürs Kind, etwas dunkles Brot mit braunem Sirup, der schnell durch die großen Löcher im Brot auf die Hand tropfte und abgeleckt werden durfte - herrlich.
Die Mutter lief los zum Kurgartenschloss unten am See und von irgendwo her läuteten Glocken zur Sonntags-Messe. Woher das Geläut wohl kam, vielleicht glaubte man aber auch nur, dass es Sonntags zu läuten hatte, denn selbst die Glocken waren am 10. Januar 1942 "zum Kriegsdienst einberufen" worden.
Beide nachstehenden Bilder wurden von Brigitte Geiselhart, Freie Journalistin, im November 2008 bei den Feierlichkeiten 80 Jahre St. Petrus Canisius an einer Ausstellungswand abfotografiert. Es wird dem Pfarramt St. Petrus Canisius in Friedrichshafen, Frau Geiselhart und dem Südkurier dafür gedankt, dass diese Dokumente hier gezeigt werden dürfen.
Tante und Onkel Juhn nahmen das Kind mit in die Kirche, stellten zwei Kerzen auf und gingen wieder. Tante Juhn nach Hause, um das Mittagessen vorzubereiten und Onkel Juhn mit dem Kind auf die andere Seite der Bahnlinie zum Bodensee. Das Kind kannte das völlig zerbombte Berlin, aber auch in Friedrichshafen hatten die amerikanischen und englischen Bomber ein Feld der Zerstörung hinterlassen.
Vom 21. Juni 1943 bis zum 25. Februar 1945 musste Friedrichshafen insgesamt elf Luftangriffe über sich ergehen lassen, da die stadteigene Industrie, welche wichtige Rüstungsgüter hervorbrachte, zum Ziel von alliierten Luftangriffen erklärt wurde. Zu den wichtigen Rüstungsgütern gehörten Radar- und Peilanlagen, Fallschirme, Motoren, Fahrzeug- und Raketenbauteile.
Am 03. August 1943 um zwei Uhr früh starteten über 50 Bomber der Alliierten ihren Angriff auf Friedrichshafen mit damals knapp 30.000 Einwohnern. Der Luftangriff galt der Friedrichshafener Rüstungsindustrie, insbesondere den Zeppelinhallen. In zwei Wellen warfen die Flugzeuge über 500 Sprengbomben ab. Die Bevölkerung war auf den Angriff nicht vorbereitet, sagt der Archivar der Stadt Friedrichshafen, Jürgen Oellers. Es gab nicht genügend Bunker und die Flakstellungen waren nicht in Friedrichshafen stationiert, um die Bewohner zu schützen. Dem Militär ging es vor allem um den Schutz der Industrie. Zu diesem Zeitpunkt war in Friedrichshafen der Bau der V 2-Rakete in Planung. Sie sollte die erste vollfunktionsfähige Großrakete der Welt werden.
Der Nachtangriff am 28. April 1944 unterschied sich insofern von den anderen Angriffen, als in dieser Nacht systematisch Wohnviertel durch englische Flugzeuge bombardiert wurden. Etwa 170 Luftminen, 580 Sprengbomben und 185 000 Brandbomben zerstörten die Industriestadt Friedrichshafen fast vollständig. Der nächtliche Angriff konnte dabei von zahlreichen Punkten aus rund um den Bodensee beobachtet werden.
Die Bevölkerung Friedrichshafens war mit den Fliegerangriffen innerhalb knapp zweier Jahre drastisch gesunken. Im Juni 1943 zählte die Stadt noch 28 650 Einwohner, im April 1945 war die Bevölkerung schätzungsweise auf rund 8000 Personen gesunken. Dabei kamen nur die wenigsten durch Bombenangriffe ums Leben: Offizielle Schätzungen schwanken zwischen 500 und 700 Menschen; viele Zwangsarbeiter und die umgekommenen KZ-Häftlinge wurden jedoch dabei nicht berücksichtigt. Die meisten Häfler wurden evakuiert oder verließen freiwillig die gefährdete Stadt und zogen häufig zu Verwandten aufs Land. Die Stadt war also, verglichen mit der Vorkriegszeit, im April 1945 nicht nur über die Hälfte zerstört, sondern auch kaum noch bewohnt.
Unmittelbar nach der Besetzung Friedrichshafens setzten bei der verbliebenen Bevölkerung umfängliche Beschlagnahmungen ein. Die Häfler mussten vor allem Waffen, Fahrzeuge, Radios, Fotoapparate, aber auch gewöhnliche Gebrauchs- und Verbrauchsgüter wie Schreibutensilien, Bücher und Nahrungsmittel an die französische Besatzungsverwaltung abliefern. Eine relativ große Anzahl von nicht oder nur kaum beschädigten Gebäuden samt Inventar wurde ebenfalls requiriert. --- diverse Quellen: schwäbische.de 28.04.2005 - SWR4 Stand: 21.06.2013, 06.46 Uhr - www.zeitzeugnisse.ch
Ruinen sind Alltägliches, aber das Kind staunt vor dem Panorama des Bodensees, der Weite des Wassers, in dem sich die sonntägliche Sonne spiegelt, den Schweizer und Vorarlberger Berge, die friedlich und malerisch herübersehen. Wenn es auch die kriegerische Zerstörung im Rücken spürt, weiß das Kind , dass es für diesen Sommer im Paradies gelandet ist.
Hand in Hand mit dem großen Mann in Nickerbockers geht es das Seeufer entlang bis zu einem kleinen Sandstreifen, wo es die auf dem Bauernhof von einem älteren Kind geerbten Sandalen abstreift und mit den Füßen ins glitschige, warme, freundliche Wasser stapft. - Plötzlich ist es wieder da, das Glücksgefühl von damals, als es sich im noch trügerisch friedlichen pommerschen Sommer in mannshohen Kornhalmen verstecken und verlieren durfte.
Dann wieder daheim, gibt es Käsespätzle mit langziehenden Fäden und herrlich knusprigen Zwiebelringen. Diese Köstlichkeit wird ein Leben lang eine geliebte Leibspeise bleiben.
Am Montag früh fährt der neue Onkel Juhn mit seinem dunklen kastenförmigen Automobil wieder davon, und die Tante Juhn sagt, dass er erst am nächsten Samstag wieder zurückkäme. Das Kind meint, dass er wohl ein ganz besonderer Mann sein müsse, denn nur die fremden Militärsoldaten dürften jetzt mit Automobilen fahren.
Da wurde erklärt, dass der Onkel Juhn als Ingenieur zuerst beim Grafen Zeppelin und dann beim Hugo Eckener Luftschiffe gebaut habe, dann zu Dornier nach Langenargen gleich neben Friedrichshafen gegangen sei, aber seit einigen Wochen bei den Flugzeugwerken Dornier in der Schweiz arbeite. Deshalb dürfe er ein Schweizer Auto fahren und komme nur zum Sonntag nach Hause.
Ins sommerliche Friedrichshafen kommen die Bewohner langsam zurück und suchen ihre frühere Unterkunft in den Trümmern. Es sind alte Leute und Frauen mit Kindern unter fünfzehn Jahren, denn der 1944 angeordnete "Volkssturm" hatte zum Schluss noch alle "Angehörigen der Jahrgänge 1928 bis 1884 " erfasst, aber auch ältere vom Faschismus geblendete Männer sowie von fanatisierten Lehrern indoktrinierte Schüler, die nicht älter als fünfzehn waren.
In dieser teuflischen Welt wachsen Kinder weniger behütet auf, lernen aber auch schnell eigenverantwortlich und unverzüglich zu handeln. Für sie gilt Krieg und Tod und Teufel als normal, sie haben nie etwas Anderes erlebt. Die Angst haben sie verinnerlicht. Das Kriegsende können sie nicht verstehen, da ihnen der Anfang nicht bewusst ist, - wer hätte ihnen auch erklären wollen, wie sich Frieden anfühlt ?
Die Ruinen der zerstörten Städte sind im Sommer 1945 und noch lange Jahre danach der Spielplatz aller Kinder und Friedrichshafen ist ein Trümmerfeld. In der Nachbarschaft gibt es zwei nette Buben: Rudi und Roland. Rudi ist gleichaltrig, Roland etwas älter und hat somit auch ältere Freunde. Wenn sie auf Streifzug durch die Trümmer ziehen, nehmen sie Rudi mit und Rudi nimmt das Kind mit.
Man sucht alles Mögliche, das noch zu Geld gemacht werden kann, - die gut erhaltene Milchkanne zum Trödler, - der durchlöcherte, zerbeulte Waschbottich als Altmetall zum Schrotthändler. Man hat Hacken und Spaten dabei; oft lohnt sich das Buddeln und der kleine selbst zusammengebastelte Handwagen ist schwer beladen und muss noch zusätzlich geschoben werden.
Eines Tages glauben alle, den Fund des Jahres entdeckt zu haben, - eine große Badewanne zeigt sich unter dem Schutt. Sie muss mühselig befreit werden, bis plötzlich einer der älteren Buben HALT schreit. Es könnte auch eine Fliegerbombe sein!
Das ganze Viertel wird evakuiert und gesperrt, um den Blindgänger zu entschärfen. Die Kinder fühlen sich als Helden des Tages, dennoch wäre eine Badewanne günstiger für das "Taschengeld" gewesen, das sie dann daheim stets der Mutter aushändigen.
Die Ruinen gehören noch lange zum Stadtbild und bleiben makabere Zeitzeugen an Tod und Teufel. Doch der Frühling 1945 ist einer der blumenreichsten im Leben des Kindes. In den Ruinen wächst es grün und bunt aus Mauerresten und Zementbrocken als hätte es den gewaltsamen Tod nie gegeben. Ganz besonders aufdringlich ist in diesem Sommer eine stolze Staude, der es auf den Trümmern gut gefällt, die Goldraute, die amerikanischen Ursprungs sein soll. Hatten sich die Samen etwa in den Bomben versteckt !?
Hier wird das Kind ewig nachtragend sein, nie wieder in seinem Leben wird es diese Goldraute tolerieren, sie wird in keinem der späteren Gärten geduldet, und wehe, wenn jemand die Idee hat, diese erinnerungsträchtige Blume in einen Strauß einzubinden.
Doch es gibt da auch noch die Sommerlinden, die ab Juni mit einem schwersüßen Duft blühen und an eine schauerliche olfaktive Wahrnehmung erinnern.
Nie wieder wird es ohne Schaudern unter blühenden Linden durchlaufen können, ja es wird immer schon von weitem versuchen, diese Bäume zu meiden, die schwersüßlich an drei uniformierte und schon mehrere Tage in warmer Maienluft und sanftem Moos verwesende Tote erinnern. Tote in Ruinen gehörten zur normalen frühkindlichen Erfahrung; - doch zur neuen friedlichen Natur darf kein Leichengeruch mehr gehören.
In diesem Sommer treffen sich die Kinder täglich bei warmen Regenschauern oder bei gleißendem Sonnenschein zu ihren Streifzügen. Rudi und sein älterer Bruder sind immer dabei, seltsamerweise gibt es keine Mädchen in der Nachbarschaft. Es ist auch erstaunlich, wie schnell das Kind seine Sprache an die schwäbische Melodie angleicht.
Häufig gehen sie auch in kleines Wäldchen in der Nähe, wobei Kinder damals gerne und oft "meilenweit" laufen. Dort gibt es eine kleine Lichtung und mitten in der Lichtung einen großen Teich, eher einen riesigen Bombentrichter, der von einem kleinen Rinnsal bewässert wird. Rund herum wachsen im Halbschatten köstlichste Himbeeren; und es lohnt sich immer wieder vorbeizuschauen, um die nachwachsenden Beeren nicht den Vögeln zu überlassen. Ein alter Mann hatte sich mit Steinbrocken und einem Brett eine Bank am Teich gebaut. - Er hat dem Rudi und dem Kind einen Strauch mit weißen Himbeeren gezeigt; - ein tolles großes Geheimnis zwischen beiden Kindern.
Dem kleinen Rudi ist das Kind besonders zugetan, es kann ihn auch ein wenig beschützen, wenn die Anderen ihn verspotten, weil er noch nicht so schnell laufen und nicht so gut klettern kann. Das Kind hatte sich noch nie für geschlechtsspezifische Anatomie interessiert; es weiß nur, dass die Buben Hosen tragen und die Mädchen Kleider.
Nun lernt es auch, dass die Mädchen sich hinhocken, um zu pinkeln und die Buben mit ihren kurzen Hosen es im Stehen tun können. Den Schlüpfer wieder unter den Rock hochziehen, ist im Sommer schnell getan; für die Buben war es eine längere Handarbeit, die mehreren Knöpfe an dem Hosenschlitz wieder zu schließen. - Da hat es der kleine Rudi immer zu eilig, und das Kind muss ihn stets wieder erinnern: "Rudi - mach dei Hoselade zua !!"
der Reißverschluss kommt später
Doch da kommt der Roland und sagt, dass der Rudi im Krankenhaus wäre - Blinddarmentzündung - und zwei Tage später ist der Rudi gestorben. Wie soll man das verstehen, der uralte Urgroßvater war der Einzige, von dem das Kind wusste, dass er friedlich im Bett gestorben war. Alles andere Sterben hatte kriegerischer Tod und Teufel verursacht. Der Rudi war quicklebendig gewesen und musste noch wachsen; warum stirbt man, wenn man noch klein ist ?!
Verzweifelt geht es zu ihrem " Geheimnis der weißen Himbeeren" in das Wäldchen, dort sitzt der alte Mann und sieht wie das Kind große Tränen in den Augen hat. Es erzählt die schreckliche Nachricht, dass der Rudi jetzt in einem hölzernen Sarg sei und nie wiederkommen würde.
Da meint der alte Mann, dass der Rudi aus dem hölzernen Sarg in den blauen Himmel hinauffliegen würde; ungläubig schaut ihn das Kind an und will nicht getröstet werden. - Da zeigt der alte Mann auf ein hölzernes Ding an einem Zweig und sagt : "Man muss Geduld haben, um das Wunder der "Auferstehung" zu verstehen. Schau genau zu, wie man sich langsam aus einem Sarg befreit."
Blaugrüne Mosaikjungfer, frisch geschlüpft mit Larvenhaut (Exuvie)
Und es dauert fast den ganzen Vormittag bis sich aus der dunklen Hülle ein blaugrünes Wunder entfaltet und sanft in den hohen blauen Himmel steigt, um wieder Frieden im traurigen Kind zu schaffen.
Das Kind braucht dann einige Zeit, bis es sich wieder den Anderen bei ihren Ausflügen anschließt, es war aber immer schon gern nur in den eigenen Gedanken zu Gast und wird es ein Leben lang bleiben..
Noch ist nicht die Zeit des Wiederaufbaus, man holt aus den Ruinen, was anderswo für notwendigste Reparaturen gebraucht werden kann, aber die Zufahrtswege werden langsam wieder hergestellt, d.h. in diesem Sommer werden Straßen wieder neu geteert und in diesem Sommer gehen Kinder barfuß.
Es gibt halt weder neue noch genügend gebrauchte Schuhe für wachsende Füße und man besinnt sich, dass barfuß laufen gesund ist. Man hat ja wieder fließendes Wasser, wenn auch in einigen Vierteln nur an der Pumpe; aber es stillt Durst und wäscht ausgezeichnet dreckige Füße mit Kernseife abends vor dem Insbettgehen.
Doch das Kind ist ganz verrückt nach dem Geruch, der beim Teeren der zu erneuernden Straßenoberflächen entsteht. In einem Transportkessel wirde der Gussasphalt zusammen mit Teer erhitzt, dann aufgebracht und von Hand - oder wenn vorhanden - mit einer mehr oder weniger großen Walze geebnet.
Abbildung einer Gussasphaltbaustelle aus dem Jahre 1880.
Im Transportkessel wurde der Gussasphalt erhitzt
und anschließend per Hand eingebaut und abgerieben
und so sah es immer noch Mitte des 20. Jahrhunderts aus
Steinkohlenteer fällt als Nebenprodukt bei der Verkokung von Kohle an. Das Hauptprodukt Koks wird in großen Mengen für die Herstellung von Eisen durch Verhüttung von Eisenerzen benötigt. Ca. 50 % des eingesetzten Teers wird als Teerpech gewonnen, das ursprünglich vor allem im Straßenbau Verwendung fand. Allerdings erwies sich das Erweichen des Materials im Sommer als Problem. Entgegen der im allgemeinen Sprachgebrauch für das Einbauen von Asphalt auf Straßen verwendeten Bezeichnung teeren ist Teer in Westdeutschland seit den 1970er Jahren und in Ostdeutschland seit 1990 für den Einsatz im öffentlichen Straßen- und Wegebau verboten und vollständig durch Bitumen ersetzt worden. - Steinkohlenteer wird unter anderem als Holzschutzmittel (z. B. für Eisenbahnschwellen) und für Dachpappe verwendet. Er war früher Ausgangsmaterial für die Herstellung verschiedener chemischer Substanzen, unter anderem Teerfarbstoffe und Carbolineum. Phenol und Phenolderivate wie Kresole und Xylenole werden zu großen Teilen auch heute noch aus Steinkohlenteer gewonnen. - Gereinigte Extrakte aus Steinkohlenteer können für die Behandlung von Schuppenflechte (z. B. Psoriasis vulgaris), chronischen Ekzemen und bei Neurodermitis eingesetzt werden, sind aber in Deutschland wegen ihrer karzinogenen Eigenschaften als Inhaltsstoff in Kosmetika verboten; dieses Verbot gilt nicht für Rezepturen auf ärztliche Verschreibung. Da sich Steinkohlenteer wegen seiner hohen Viskosität schlecht verarbeiten lässt, verwendet man eine nach DAC als „Liquor Carbonis detergens“ bezeichnete 20%ige Lösung von Steinkohlenteer in Seifenspiritus. Steinkohlenteer hemmt den Juckreiz (Antipruriginosum) und wirkt wegen seiner Inhaltsstoffe, wie Kresolen bakterizid, fungizid und insektizid. (Quelle: Wikipedia)
Diese Sucht nach Teergeruch ist größer als Freude an jeglichem Blumenduft; eine ähnliche Fehlschaltung kennt das Kind seit frühester Kindheit indem es stets lieber Brühwürfel statt klebriger Bonbons lutscht. Bei der Geburt soll ja der Geruchssinnn schon voll ausgebildet sein, da muss wohl prenatal eine falschorientierte Prägung erfolgt sein !!!
Sobald in der Nähe Straßenarbeiten durchgeführt werden, nimmt es die Witterung auf und läuft barfuß neben oder hinter der Arbeitsgruppe her. Im Sommer härtet Teer aber nur sehr langsam aus, auch auf fertigem Straßenbelag schwitzt der Teer immer wieder aus. - Dann helfen kein Wasser und keine Seife, um die Fußsohlen wieder sauber zu bekommen; da muss dann sehr lange mit Scheuersand gerubbelt werden.
Die Beschaffungsnot der Erwachsenen wurde dem Kind im Sommer 1945 nicht bewusst, sicher gab es keine Schuhe, doch das Barfußlaufen machte Spaß und fast alle Kinder taten es. Die Ernährungslage war so schwierig, dass die Kinder höchstens in die Höhe wuchsen. An die Kleidchen wurden 10-20 cm Stoff - wenn nötig vom Vorhang - angenäht.
Die Buben trugen häufig die viel zu großen Hosen der gefallenen oder gefangenen Brüder oder Väter auf, zu kurze Hosen erhielten zusätzliche Streifen unten an den Hosenbeinen und die Knöpfe am Bauch wurden versetzt.
Nur einmal erfuhr es, dass seine Kleidung ärmlich war. Es wollte die Mutter von der Arbeit im Kurgartenhotel abholen und wartete barfuß im selbstgenähten Sommerkleidchen am Eingang neben dem Wärterhäuschen des wachhabenden französischen Soldaten. Die höheren Besatzungsoffiziere hatten wohl ihre Familien nachgeholt, denn zwei kleine, fast gleichaltrige Mädchen spielten im Park, kamen näher und liefen schreiend wieder davon. - Und dann kam ein Mann ohne Uniform, der auf Deutsch das Kind wegschickte, weil es barfuß am Tor betteln würde. - Was mit betteln gemeint war, musste dem Kind dann zuhause erklärt werden.
Kurgartenhotel Friedrichshafen
1945 bis 1956 diente das Gebäude als französische Kommandantur
Im Zweiten Weltkrieg blieben die meisten Orte am Bodensee von der Zerstörung verschont. Daher haben Städte wie Konstanz immer noch eine beeindruckende Altstadt. Friedrichshafen jedoch wurde aufgrund seiner Rüstungsindustrie hart getroffen und zu zwei Dritteln zerstört. Der Bodenseeraum ist für die Landwirtschaft besonders begünstigt. Das milde Klima, die Höhenlage sowie der ausreichende Niederschlag schaffen am Bodensee gute Bedingungen für die Landwirtschaft. So haben sich neben Grünland- und Ackerwirtschaft Sonderkulturen wie Obst- und Gemüsebau, Wein oder Hopfen entwickelt.
Die französischen Truppen wunderten sich beim Einmarsch in die Bodenseeregion - außer in der Stadt Friedrichshafen - ein friedliches bäuerliches Leben vorzufinden. Dies war für die Bevölkerung zumindest noch im Sommer 1945 ein Vorteil, denn die meisten Bewohner hatten ja Familie auf dem Lande und konnten z.B. noch an der Kartoffelernte teilhaben. - Wenn man in der Stadt einen wenn auch noch so kleinen Garten hatte, so war dies schon aus Tradition stets ein Nutzgarten mit Gemüseanbau.
Man hatte üblicherweise den Kartoffelkeller, eingelagerte Zwiebeln und daneben auf den Regalen noch "Eingewecktes" als Tauschware. Im Sommer ernährten sich die Kinder von viel Obst von den Streuobstwiesen, man lief morgens früh mit Rucksäcken und Körben los und sammelte auf, was heruntergefallen war. In folgenden Herbst gab es sicher kaum mehr Obst zum Vermosten.
Streuobstwiese : Im Mittelalter führten dann die Mönche in ihren Klöstern diese Obstbautradition fort und entwickelten die Gartenbautechniken weiter. Vor den Toren ihrer Gotteshäuser legten sie breite Ringe mit üppigen Obstbaumgärten an. Bauern und Ackerbürger folgten dem Beispiel der Klöster bei der Anlage ihrer Gärten. Als die Grundstücke innerhalb der Stadtmauern nicht mehr ausreichten, wich man in die freie Landschaft aus. Das war der eigentliche Ursprung der Streuobstwiesen. So entstand z.B. das „Alte Land“, eines der größten Obstanbaugebiete Deutschlands, vor den Toren Hamburgs auf Initiative der Mönche aus dem Kloster Stade.
Die erfolgreiche Ära des Obstanbaus hielt weit über viele Jahrhunderte an. Die wachsende Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts hatte vermehrt Bedarf an qualitativ hochwertigem Obst, sowohl zum Frischverbrauch als auch für die Vorratshaltung. Nach beiden Weltkriegen war die Selbstversorgung lebensnotwendig. Die Streuobstwiesen hatten zwischen 1930 und 1950 ihre bisher größte Ausdehnung. 1950 gab es in Deutschland noch 1,5 Mio Hektar Streuobst, 1990 waren es nur noch 300.000 Hektar (Quelle: Landesverband Baden-Württemberg)
Das Kind erinnert sich auch noch Dreifrucht-Anbau auf den Wiesen am Bodensee : oben Äpfel, Birnen, Pflaumen, Zwetschgen oder auch Quitten, darunter Beerensträucher auf halber Höhe und am Boden dann Salat, Erdfrüchte wie Möhren, Lauch, Zwiebeln oder eher kalorienreicher Kohl jeder Art.
Das Obst, das die Kinder sich eigenständig von den Bäumen griffen oder darunter aufhoben, war garantiert biologisch einwandfrei. Jedes Kind hatte den Reflex, Äpfel und Birnen äußerlich nach Wurmstichen zu untersuchen und dann darum herum zu beißen, um die Wurmausscheidungen zu vermeiden. Pflaumen und Zwetschgen wurden generell erst in der Mitte auseinandergeklappt und bei Wurmbefall vor dem Runterschlucken möglichst durchs Wasser gezogen. Sonst mussten die Finger den Wurmkot vor dem Verspeisen der Frucht entfernen.
Der Wurm wohnt nur in einem gesunden Apfel ohne Pestizide
Da gab es am Ortsrand ein Grundstück umgeben von einer gelben mannshohen Mauer und im unerreichbaren Garten Quittenbäume mit reifen Früchten. Nicht dass man in Quitten hineinbeissen möchte, sie sind hart und bitter. Die Mütter können daraus Mus und Gelee machen, nur viel Zucker muss dazu her und den gab es selten.
Doch allein die Unerreichbarkeit dieser Früchte war ein unwiderstehlicher Reiz; sicher stand auf dem Grundstück auch ein Häuschen, in dem ein uralter Mann und ein noch recht junger Hund wohnten. - Mann und Hund wurden jedoch selten gehört und gesehen, so dass von den Kindern eine Expedition geplant und eine Leiter besorgt wurde.
Die Mauer wurde dank der Leiter überwunden, die Äste voller Quitten hingen bis aufs Gras hinunter, die Ernte konnte beginnen und die Rucksäcke gefüllt werden. Doch plötzlich kam der Hund - nicht bellend, sondern keuchend - , alle hatten größte Angst und versuchten höher ins Geäst zu steigen, - der Hund sprang hinterher, - doch da kam "la voix de son maître", der Mann pfiff und nahm den gehorsamen Hund an die Leine.
Die Kinder fürchteten sich vor Mann und Hund, keines wusste wie das wohl weitergehen könnte. Doch der Mann schaute alle aufmerksam an, hob die Äste hoch, um kein Kind zu vergessen; sagte dann "Endlich habe ich kleine Erntehelfer, macht eure Rucksäcke voll und bringt alle restlichen Quitten auf die Regale in den Schuppen, vorher lasse ich euch nicht gehen."
Der Herbst war wohl nicht zu kühl, denn man lief noch lange barfuß, die großen Kinder gingen auch zunächst ohne Schuhwerk zur Schule. In den Familien hieß es bei der Kleidung "aus alt mach neu", und es wurden viele alte Pullover aufgerebbelt und nicht nur neue Pullover sondern alles Mögliche daraus gestrickt, lange Strümpfe für die Kinder - Buben und Mädchen - Socken für alle Altersklassen, sowie warme Unterhosen für den Winter.
Das Schlimmste waren die Leibchen. Noch bis in die 1960er wurden Bändchen bei Kindern zur Befestigung von Wollstrümpfen am Leibchen verwendet. Es war üblich, dass die kleinen Buben auch im Winter kurze Hosen trugen, und die Mädchen hatten generell nur Kleid oder Rock anzuziehen; drunter trugen alle Kinder am Oberkörper Leibchen zum Befestigen der langen Strickstrümpfe mit Stapsen. Bei den Damen hieß das Strumpfbefestigungssystem Hüftgürtel; da Kinder jedoch weder Taille noch ausgeprägte Hüften haben, ging das Leibchen über die Schultern und die Strapse in Höhe des Bauchnabels dann unter oder über der Unterhose an die kratzigen Strickstrümpfe. (Es wurde im Internet leider kein Bild dieses Folterinstruments gefunden).
Das Leibchen war ein in Deutschland weit verbreitetes Kleidungsstück für Kinder, welches zwischen Unterhemd und Hemd getragen wurde. An ihm befanden sich Strumpfhalter, heute Strapse genannt, an dem ein Paar Strümpfe befestigt werden konnten. Unter Straps ist die Befestigung wie folgt erklärt: "Meistens befindet sich am unteren Ende des Bändchens eine Öse und ein Knopf. Zur Befestigung wird der Knopf zwischen Bein und dem Abschluss des Strumpfs geschoben und dann die Öse so darüber gelegt, dass der Abschluss zwischen Knopf und Öse liegt und sich der Knopf in der großen Öffnung der Öse befindet. Dann wird die Öse zurückgezogen, so dass der Knopf einrastet." Quelle: Wikipedia
Die Versorgungsschwierigkeiten brachten es mit sich, dass alles in Heimarbeit - meistens nur mit der Hand - von den Müttern und Großmüttern - aus alter Wolle, alten Kleidungsstücken, Decken, Vorhängen und alten Uniformen gefertigt wurde. Wobei zum Teil auch die alten Nähfäden herausgezogen und neu verwendet werden mussten. Dass alles kniff und kratzte, wagte keiner zu sagen.
Als dann die Barfußzeit zuende war, wurden "Klepperle" auch in Heimarbeit hergestellt : Sohlen aus Holz und darüber wurden dann vorne Streifen aus festem Material genagelt. Zwei Paar Socken oder ein Paar am Leibchen befestigte lange Strümpfe und zusätzliche Socken ersetzten die Winterschuhe. Nasse Füße waren an der Tagesordnung und geheizte Wohnungen, um sich zu wärmen, gab es selten. Wenn man Glück hatte, wurde in der Küche mit Holz gekocht und es dadurch kurzzeitig ein wenig warm. Man ging freiwillig früh zu Bett.
Dann kam der Winter, zu Weihnachten gab es mit Ofenrohrfarbe versilberte Nüsse und ein Paar bunt gestrickte Handschuhe - natürlich beide mit einem Band verbunden, das über dem Rücken durch die Ärmel gezogen wurde, damit man ja keinen Handschuh verlor.
- Die Mutter musste Heiligabend im Kurgartenhotel, einem der Hauptquartiere der französischen Besatzungsmacht am Bodensee spät abends arbeiten. Da es wohl nicht anders ging, nahm sie das Kind mit ins Kurgartenhotel zur Weihnachtsfeier der französischen Offiziere mit ihren Familien.
Das Kind sollte sich still auf den Boden in eine Ecke setzen und es freute sich über einen kleinen Teller mit Plätzchen; die Bediensteten hatten den Saal nach deutscher Art weihnachtlich geschmückt, für den übergroßen Tannenbaum vielleicht sogar von zuhause Kugeln und Lametta mitgebracht.
Kerzen brannten überall und die Tische bogen sich unter den ausgesuchten Speisen für das Festessen der geladenen französischen Gäste.
Es gab keine Weihnachtslieder, sondern es wurde nach lauten amerikanischen Klängen getanzt bis spät in die Nacht. Die französischen Buben und Mädel waren sehr fröhlich und das Ringelreihtanzen wohl international.
Das Kind blieb still in der Ecke wie man es ihm gesagt hatte und freute sich über den wunderschönen Weihnachtsbaum. Bald schliefen kleinere Kinder an den Tischen ein, und die französischen Mütter mussten sie heim zu Bett bringen.
Schließlich waren nur noch jüngere Offiziere und einige Damen in schönen langen Kleidern und sehr hohen Absätzen im Saal; alle waren sehr laut und vergnügt.
Da zog einer der Offiziere eine Pistole und schoss auf die Kugeln des Weihnachtsbaumes, begeistert vom neuen Spaß taten es ihm andere Franzosen gleich und als es keine Kugeln mehr am Baum gab, wurden die Kerzen auf die selbe Art gelöscht.
Dann kam die Mutter und holte das Kind aus der Ecke, um gemeinsam durch die stille Nacht nach Hause zu gehen.
Es wurde kalt und ein heftiger Wind fegte über den Bodensee. Man hatte noch den Wintermantel vom letzten Jahr, die Knöpfe gingen nicht mehr richtig zu und er war viel zu kurz, aber mit einem dicken Strickschal war alles in Ordnung. Nur die schöne Mütze aus Pommerland vermisste das Kind immer noch.
Die Mutter erhielt eine Nachricht vom Roten Kreuz, dass der Vater bald aus russischer Gefangenschaft entlassen werden würde. Da die Gefangenen immer an ihre letzte Heimatadresse geschickt wurden, suchte man die nächste Zugverbindung, um nach Berlin zu kommen. Die Reise durch die verschiedenen Besatzungszonen nach Berlin war sicher langwierig, doch das Kind hat die Erinnerung daran nicht aufbewahrt.
Der Vater kam dann erst 1950
aus sowjetischer Gefangenschaft nach Berlin zurück.
Armand Guillaumin: Hohlweg im Schnee
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ES WIRD WEITERGESCHRIEBEN
in
ein ungläubiges Kind
1946
Strassenwalze
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