MARIVA - Charlottenburger Impressionen 1943
*Original D*
ES-Zeiten - II. Kapitel
Bild Wikipedia: Rankestrasse
Charlottenburger Impression
Kindheit in Berlin bis November 1943
Es war Krieg in der Welt, in die es geboren wurde; ein Kind ungewollt hingenommen; man hatte noch im Winter geheiratet, weil es sich so gehörte; und dann musste man sich an einem schönen Sommertag auch noch damit abfinden, dass sogar der ausgesuchte männlich Vorname nicht entsprach. Man würde in Zukunft in allem besser aufpassen!
Es störte, dass da ein noch unfertiges Wesen war, um das man sich hätte kümmern müssen. Man war noch jung und wollte erst das eigene Leben leben; auch der erneute Krieg war noch jung und fern, ein baldiger Sieg beabsichtigt. Während der sechswöchigen Schutzfrist der Mutter gab man es bei der benachbarten kinderlosen Freundin ab, wo es dann auf der „Besuchsritze“ zwischen den Ehebetten lag und brav die gesüßte Kuhmilch trank. Zum Stillen hatte man weder Lust noch Zeit, denn man war schön und begehrt, und die noch strahlende Hauptstadt voller Versuchungen für das noch neue Ehepaar.
Als dann wieder Zeit war, täglich zur unterhaltsamen Tätigkeit in die Traumstadt Babelsberg zu fahren, wurde die Aufzucht an die Großeltern weitergereicht. Die Großmutter war zwar sehr krank und ihr Asthma brachte sie nur noch wenige Schritte vom Bett zum Sessel und zurück, der Grossvater als treuer Soldat im Felde, jedoch gab es ein Hausmädchen, dem man Windeln und Füttern beibrachte.
So wuchs es versorgt auf und lernte schnell aufrecht gehen, um alles unbeteiligt zu beobachten. Die Großmutter soll sehr lieb gewesen sein, aber die Erinnerung hat sie nicht festgehalten. Das Wichtigste: der Großvater! Selten war er zuhause; kam er, war jedoch ein Fest. Es wurde auf den langen Esstisch gesetzt und Opa packte alles aus, was nicht auf den Lebensmittelkarten stand: das Schönste ist dann die harte Wurst, in die man mit allen verfügbaren Milchzähnen hineinbeißen darf, ein Geschmack von salzigem Rauch und manchmal auch Knoblauch verbreitet sich im Gaumen, die Erinnerung daran bleibt ein Leben lang, herrlich!
Das Süße ist nicht so begehrt, statt klebriger Bonbons immer lieber Brühwürfel lutschen. Es wird sogar berichtet, dass nach einem geselligen Essen die Herren sich zu Schnäpsen und Zigarre ins Herrenzimmer und die Damen mit Zigaretten und Likören in den Salon zurückzogen, man dann am Abend merkte, dass es die Neigen der Schnapsgläser gekostet aber die Likörreste verschmäht hatte.
Damals nicht und auch später aß es niemals Vanilleeis, obwohl man sehr stolz darauf war, dies im hauseigenen Eisschrank herzustellen. In Wahrheit war es ein gefrorener sehr fader Pudding, darüber goss man etwas künstlich rot gefärbten Sirup. Doch interessant war die große Truhe in der Speisekammer neben der Küche schon.
Das Besondere an dem Ungetüm war nicht die gekühlt aufbewahrte verderbliche Nahrung im Zinkblechbehälter sondern der Eismann, der je nach Wetter mehrfach in der Woche mit seiner großen Gummischürze die Eisblöcke auf dem Rücken hinauf in die Wohnung trug; irgendwie fielen immer kleine lutschbare Stücke am Rand ab, köstlich!
Ein warmer Sommertag und Es ging an der Hand des Hausmädchens zum Milch und Brot holen; zurück nahm das Mädchen gern einen Umweg von der Rankestrasse zum ruhelosen Kudamm mit den vielen Straßencafés. Jungen Soldaten auf Heimaturlaub konnte man dort zulächeln. Aber da stand plötzlich der Großvater inmitten einer Gruppe Uniformierter, es läuft jubelnd auf ihn zu, der Opa freut sich und hebt es hoch in die Luft, beide tanzen dann einige Schritte Ringelrein; doch plötzlich ein lauter Befehl und es muss zurück an die Hand des Mädchens, das verärgert meinte: Jetzt muss er deinetwegen in den Bau!
Was „der Bau“ immer auch gewesen sein mag, lange kann das nicht gedauert haben, denn sonntags ist der geliebte Opa wieder zuhause und gibt seiner Enkelin einen lebenslangen Ratschlag. Es sitzt auf seinen Knien und man unterhält sich wie normale Leute. Da klingelt das Telefon, es will von den Knien springen und sagt: Opa – Telefon!
Doch er bewegt sich nicht, um zum Apparat zu gehen: Jetzt nicht, wir zwei unterhalten uns doch gerade so gut, und wenn das Telefon klingelt, muss man nicht unbedingt antworten. - Wenn es wirklich wichtig sein sollte, wird sich der Anrufer schon wieder melden. Man macht auch nicht jedem die Tür auf, wenn es läutet.
Man wohnte in der "Beletage", das heißt im ersten Stock eines Hauses aus der Gründerzeit, an einen Fahrstuhl kann Es sich nicht erinnern; warum auch, das Treppenhaus war stuckverziert und sehr gediegen! In der Wohnung gab es ein Herrenzimmer mit Zigarrengeruch, einen Salon mit dem süßlichen Duft der Mentholzigaretten der asthmakranken Großmutter und ein neutrales Esszimmer; all diese Räume hatten Verbindungstüren. Es erinnert sich an einen Besuch des Vaters, der Es auf die Schultern nahm und glaubte, durch die Räume hüpfend dabei Freude zu erzeugen. Statt Spaß, holte ES sich jedoch nur eine große Beule am Kopf, da erst an der zweiten Tür bemerkt wurde, dass Vater plus Kind zu hoch für die Türrahmen waren.
Für das Kind gab es ein großes dunkles Zimmer, in dem auch die Nähmaschine und der Bügeltisch standen. Man hatte die Nadel aus der Maschine entfernt und die Holzabdeckung hatte ein Sicherheitsschloss erhalten, seitdem Es versucht hatte, allein zu Nähen; die Füße reichten zwar nicht bis zum Fußgestell, ES hatte aber das Handrad gelöst und sich in den Finger gestochen. - Das elektrische Bügeleisen stand vorsichtshalber oben auf dem Küchenschrank.
Vom einzigen Fenster des "Berliner Zimmers" konnte man in den Hof sehen, wo die Kinder aus dem Hinterhaus spielten. - Einmal hatte der Großvater seltene Schokolade mitgebracht, und Es hatte sich über die Hintertreppe hinuntergeschlichen, um diese Delikatesse mit den Kindern zu teilen. Die Kinder nahmen dankend die ganze Blechdose; doch das Hausmädchen verbot danach jegliches Spielen im Hof, und ES konnte dann nur noch heimlich Kontakt vom Fenster aus aufnehmen, wobei sich das auf gegenseitiges Winken beschränkte.
Ab 1939/1940 gibt es keine Schokolade mehr für den zivilen Gebrauch (außer Getränke), die gesamte Produktion geht an das Militär. Aber auch die Produktion für die Truppenverpflegung bricht kurze Zeit später zusammen, als die Versorgung mit Rohkakao ausbleibt. Die Scho-Ka-Kola wird als „Fliegerschokolade“ berühmt und erlebt als Verpflegung für Piloten 1941 eine Rekordproduktion (Quelle:Schoko-Magazin). - Der Koffeingehalt von etwa 0,2 Prozent, ergibt sich aus dem Kakaogehalt von 58 Prozent und der Beimischung von 2,6 Prozent geröstetem Kaffee sowie 1,6 Prozent Kolanuss-Pulver (Quelle:Wikipedia).
Es gab viele Besonderheiten, zum Beispiel die Gasmasken der Erwachsenen, die für das Kind zum Alltag gehörten. Etwas sehr Lustiges wurde ihm aber nur einmal anprobiert, dann lag es wohl in irgend einem Schrank:
Das Gasjäckchen war für Trage- und Laufkinder, die noch keine Volksgasmaske tragen konnten (bis etwa zum vierten Lebensjahr). Es bestand aus einem Jäckchen mit Überdruckventil, Anschlußstutzen und Außenfenster, einem Volksmasken-Filtereinsatz, einem Blasebalg mit Traggurt und einem Verbindungsschlauch. Der Blasebalg wurde nach Überstreifen des Jäckchens gleichmäßig im Zeitmaß der eigenen Atmung (etwa 15-20 Mal in der Minute) betätigt. (Für Säuglinge und Liegekinder gab es ein spezielles Gasbettchen s.o.)
Das Fenster zum Hof - und alle anderen Fenster der Wohnung, des Hauses, der Straße, der Stadt und des ganzen Landes hatten Verdunkelungen, es war halt Vorschrift, selbst im Treppenhaus war es tagsüber finster. Die riesige blumenverzierte Scheibe konnte nur noch von außen bewundert werden, innen hatte man einen Holzrahmen mit lichtundurchlässiger Pappe angebracht. Auf dieser Pappe klebte ein Plakat:
und darunter die Aufschrift: "Die Fenster der Treppenhäuser sind möglichst mit einer dauernden Abblendung zu versehen. Es muß gerade noch genügend Licht zum Erhellen des Treppenhauses bei Tage einfallen und ausreichend gelüftet werden können."
Der Reichluftschutzbund wurde am 29. April 1933 von Hermann Göring gegründet und unterstand dem Reichluftfahrtministerium. Im Jahre 1939 waren etwa 15 Millionen Mitglieder im RLB organisiert. Es existierten 75.300 Dienststellen; 820.000 Amtsträger taten ihren Dienst im RLB (davon 280.000 Frauen). Die Mitglieder wurden in 3.800 Schulen von mehr als 28.000 Lehrern ausgebildet. Das Ausbildungsprogramm umfaßte das luftschutzmäßige Herrichten eines Hauses und der Wohnung, Brandbekämpfung, Gasschutz, Erste Hilfe sowie Meldewesen. Zur Teilnahme an den Ausbildungsveranstaltungen des RLB konnte jeder durch das Luftschutzgesetz vom 26. Mai 1935 verpflichtet werden. Am 1.Mai 1936 wurden Richtlinien für die Durchführung der Verdunkelung herausgegeben (Auszüge):I. Aufgaben: Verdunkelungsmaßnahmen haben den Zweck, Ortschaften, Arbeitsstätten, Wohngebäude, Verkehrsanlagen und sonstige beleuchtete Anlagen u. Einrichtungen jeder Art so zu verdunkeln, daß ihr Auffinden durch Luftfahrzeuge und somit ein gezielter Bombenabwurf erschwert wird. ..... Abblendung in Wohngebäuden. Die Abblendung aller Fenster, Glasdächer, Oberlichter usw. muß im Frieden vorbereitet und mit dem Aufruf des Luftschutzes oder auf Anordnung des Leiters des Luftschutzortes vorgenommen werden.
Als zeitlicher Hinweis: Die IV. Olympischen Winterspiele fanden vom 6.-16. Februar 1936 in Garmisch-Partenkirchen statt. Die Olympischen Sommerspiele 1936 wurden vom 1.- 16. August 1936 in Berlin ausgetragen.
doch es fehlte nie an Galgenhumor:
Lied von Manfred Heidmann (Text: Bruno Balz) Grammophon
gesungen 1942
Wenn unser Berlin auch verdunkelt ist,
wir Berliner bleiben helle.
Und wenn man auch dies oder das vermißt,
der Berliner bleibt ein lustiger Geselle.
Es kann der fehlende Laternenschein
bevölkerungspolitisch äußerst wertvoll sein.
Wenn unser Berlin auch verdunkelt ist,
der Berliner bleibt doch helle,
denn er ist ein Optimist.
Da dem "Berliner Zimmer" generell das Tageslicht fehlte, wurde das schwarze Rollo erst bei völliger Dunkelheit heruntergelassen, dann leuchteten auf dessen Innenseite viele bunte Märchenfiguren, und die Mutter hatte bei einem ihrer seltenen Besuche auch noch einen großen lustigen Hasen mit Mehlkleister aufgeklebt, denn Es wurde von ihr "Hase" genannt.
Im Jahr 1943 gab es immer mehr Fliegeralarm, und man organisierte sich, dem Kind schien das alles sehr alltäglich, es hatte in der Stadt ja nie etwas anderes gekannt. Ein kleines Köfferchen stand bereit für den Gang in den Keller, zur Nacht zog man sich nicht mehr ganz aus; und die schönen gesmokten Nachthemdchen blieben in der Schublade. Das Hausmädchen kümmerte sich um die asthmakranke Großmutter und eine liebe alte Dame aus dem Nachbarhaus um das Kind. Die alte Dame kam schon beim Voralarm, wenn die Sirenen einen langgezogen Ton gaben, denn sie hatte die Warnung bereits im Radio gehört. Man hatte noch ein wenig Zeit, bis die Sirenen dann wirklich auf und ab jaulten. Jeder Hausbewohner musste in den hauseigenen Keller, nur das Kind durfte mit der Nachbarin ins Nebenhaus.
Meistens freute es sich darauf, denn die alte Dame konnte so schöne Märchen und auch selbsterfundene Geschichten erzählen. Es setzte sich auf den Boden gegen die Wand und hörte zu. Oft hatte auch jemand Kuchen und Limonade mitgebracht, und wenn dann ein langer Heulton kam, war Entwarnung und man ging wieder ins Bett. Manchmal gab es auch mehrmals Alarm in der Nacht, das wurde dann etwas hektisch, weil die Erwachsenen gereizt und übermüdet waren.
Dann kam jene sehr lange Nacht, als im Keller alles schwarz und still wurde. ES kann sich nicht richtig erinnern, nur dass es stockdunkel und nichts mehr zu hören war, und alle schliefen. ES ist dann wohl auch eingeschlafen.
Von draußen sah es anders aus. Die Häuser brannten lichterloh. Obwohl die Bombardierung noch im vollen Gange war, konnten aus dem Keller nebenan die Großmutter, das Hausmädchen und alle Bewohner mit ihren kleinen Habseligkeiten gerettet werden. Plötzlich war auch der Großvater mit Tante Eri da, und man sagte ihnen, dass im Keller mit dem Enkelkind niemand mehr leben würde. Bei einem kurzen Vordringen hätte man feststellen müssen, dass alle Insassen fraglos durch den Luftdruck einer übergroßen Detonationswelle von Sprengbomben und Luftminen getötet worden wären.
Großvater soll dennoch die Fähigkeit (oder die Befehlsgewalt?) gehabt haben, nach langen Stunden während weiterer Bombardierungen einen Sonder-Rettungstrupp zu organisieren, um den Zugang zum Keller freizulegen. Man fand achtzehn äußerlich völlig unversehrte aber leblose Personen und ein schlafendes Kleinkind. Die Druckwelle hatte es am Boden liegend nicht erfasst.
Draußen tobte derweil der Krieg und der Großvater musste wieder fort, um daran teil zu nehmen. Tante Eri band dem Kind ein Tuch fast ganz um den Kopf gegen den stobenden Funkenflug, und um es schnell abzureißen, falls es vom stinkenden grüne Phosphor getroffen wurde, - denn das Kind wusste von den schreienden Menschen, in die sich der Phosphor einbrannte.
Die "Weihnachtsbäume" mit ihren Leuchtkugeln markierten das Viertel vom Himmel aus für neuen Bombenwurf. Im II. Weltkrieg markierten vor Luftangriffen alliierter Bomber spezielle Pfadfinder-Flugzeuge das Zielgebiet mit weißen, roten und grünen Leuchtkörpern. Die Bevölkerung bezeichnete diese an Fallschirmen langsam niederschwebenden Leuchtbomben als „Weihnachtsbäume“.
So stolperten sie durch Trümmer, vorbei an Verletzten und Toten und höllenheißen Flammenmeeren; als der Feuersturm zu stark wurde, musste man unbedingt einen Unterstand suchen. Tante Eri hatte ein nur im Dachstuhl brennendes Haus ausgesucht, dessen Haustür offen stand. Dem Kind wurde das Tuch vom Kopf gezogen und das erste was es sah, war eines jener kleinen Fenster, die oft neben den Eingangstüren ein wenig Licht spenden dürfen.
In diesem Fenster stand eine Geranie - ob sie echt oder künstlich war, sei dahingestellt. Doch der kleine weiße Vorhang neben der Geranie brannte in der gleichen Farbe mit der die Geranie blühte. Das Kind erkannte zum ersten Mal in seinem Leben, dass es Dinge gab, die so nicht sein dürfen !
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Kommentare
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- 1. richard Am 24/07/2014
weiter so - ordentlich geschrieben
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