MARIVA - Es war einmal ein misstrauisches Kind
Original D
ES-Zeiten - VI. Kapitel
misstrauisches Kind
1946- 1950
Es hatte die ersten fünf Jahre seines Lebens beobachtet und nachgedacht,
misstrauisch geworden, glaubte es im Februar 1946 nicht mehr an irgendeine Zukunft
und war froh,
wenn die Tage fast ereignislos vorübergingen.
Es
Die Mutter suchte im zerbombten Berlin lange nach einer eigenen Bleibe.
Wohl aus Versorgungsgründen war die Freizügigkeit in Berlin in den ersten Nachkriegsjahren äußert eingeschränkt, das betraf nicht nur die vier Besatzungs-Sektoren sondern auch die Ortsteile der verschiedenen Bezirke. - Man musste eine Wohnadresse vor 1945 in einem Ortsteil nachweisen, um dann dort und nirgends woanders wieder ansässig werden zu dürfen. Flüchtlinge und selbst Kriegsheimkehrer, die nicht in Berlin gewohnt hatten, mussten versuchen, in der Umgebung unterzukommen oder weiterziehen.
Berlin hatte schon immer den Vorteil, nicht in nummernbezogene Bezirke aufgeteilt worden zu sein, - sondern es bestand aus nach und nach eingegliederten Gemeinden, die auch innerhalb der Bezirke ihre ursprünglichen Ortsnamen behalten haben. Meist ist es der größte Ort des Bezirks, der dann den Bezirksnamen ergibt. - Das hat den Vorteil, dass man sich nicht nur als "Berliner" fühlt, sondern auch z.B. als Schöneberger oder Kreuzberger.
Bei der Bildung von Groß-Berlin im Jahr 1920 wurde aus den bis dahin zum Landkreis Teltow gehörenden Gemeinden Tempelhof, Mariendorf, Marienfelde und Lichtenrade der 13. Verwaltungsbezirk gebildet. Nach seinem bevölkerungsreichsten Ortsteil erhielt er den Namen Tempelhof.
Die Siedlung von BERLIN mit dem Nachbarort Cölln erhielt das Stadtrecht um 1240.- Die Dorfkirche von Marienfelde wurde als Feldsteinkirche schon um 1220 errichtet und ist somit wohl der älteste Kirchenbau vom heutigen Berlin.
Vor 1939 gab es im gesamten BERLIN 4.4 Millionen Einwohner, im kleinen Marienfelde wohnten jedoch nur ca. 10.000 Leute. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Kern von Neu-Marienfelde durch Bombenangriffe weitgehend zerstört. Ende 1945 war die Einwohnerzahl trotz des Zuzugs von Flüchtlingen auf etwas über 8.000 gesunken.
Marienfelder Freunde aus "guter alter Zeit" fanden eine Dachkammer mit dem Luxus eines kleinen Waschbeckens sowie Bett und Feldbett fürs Kind. Erinnerung an die Besichtigung der eiskalten Behausung ist nicht geblieben, nur zwei Sätze der Vermieterin : "das Klo muss täglich geputzt und gespült werden !" - "und dass mir das Kind ja nicht im Garten spielt !"
Die erste Erinnerung an Marienfelde war der S-Bahnhof, denn ES fuhr noch gerne zur Tante Eri in die Laube, und der Rückweg mit zweimal umsteigen bleibt bis heute eingeprägt.
Mahlsdorf - Ostkreuz - Papestrasse - dann Richtung Rangsdorf bis Marienfelde
Als die letzten Habseligkeiten von Mahlsdorf nach Marienfelde gebracht wurden, traf die Mutter am Umsteigebahnhof Papestrasse zwei Freunde aus "guter alter Zeit", gab dem Kind den Hausschlüssel, eine der warmen Decken aus der Laube und meinte "Du musst nur über die Holztreppen und dann die S-Bahn Richtung Rangsdorf oder Mahlow nehmen und in Marienfelde aussteigen, das siehst du dann schon".
Das mit dem Sehen war einfach, doch mit dem Lesen der Schilder war ES noch nicht so vertraut, man sprach halt die Leute an und kam zum Ziel.
Vom Bahnhof aus fragte es sich durch bis zur Messmerstrasse, schloss die Haustüre auf und stieg hinauf zur Kammer im zweiten Stock, um schnell und müde unter die mitgebrachte Decke zu schlüpfen.
Draußen war kalter Winter und die Kammer nicht geheizt, so legte es nur die klobigen Holzpantinen ab, behielt die zwei Paar Socken an und rollte sich im noch aus Pommern stammenden Wintermantel in die dünne Zudecke. - Dieser Wintermantel war mehrfach unten, seitlich und an den Schultern dem wachsenden Kind angepasst worden; das ursprüngliche Tuch war noch von sehr guter wärmender Qualität, die Zugaben dafür farblich lustiger.
Es wurde schon dunkel im Raum und über die Stromsperre aufgeklärt, hatte es noch nicht mal versucht, den Lichtschalter anzuknipsen. - Die Augen versuchten eine Bestandsaufnahme, - der Lichtschalter hätte - wenn möglich - eine nackte von der Zimmerdecke hängende Glühbirne erhellt. Der Raum war überaus minimalistisch eingerichtet : ein metallenes Bettgestell mit einer sehr gebrauchten dünnen dreiteiligen Matratze belegt für die Mutter, das Kind lag auf einem Feldbett aus einem wohl nicht mehr zusammenklappbaren Holzgestell, bespannt mit dunklem festen Stoff.
Da war noch ein alter Gartentisch mit einem Hocker darunter, eine Holzkiste, ein kleines Regal unter dem Waschbecken, daneben eine große Wasserkanne (vielleicht gab es ja auch Wassersperre wie Stromsperre), - von Berlin hatte Es ja nur die Laube mit totaler Selbstversorgung kennen gelernt. - Es hatte Hunger aber auch Durst und lief zum Wasserhahn, doch der Hahn gab nichts ab - also doch Wassersperre ! in der Wasserkanne war noch ein kleiner recht sauberer Rest.
Ein kleiner Kachelofen
mit Kochplatte
und langem Ofenrohr
könnte möglicherweise
für Wärme sorgen.
Da es aber in der Kammer lausig kalt war und sich in der Fensterluke in der Dachschräge noch nicht einmal ein Stern zeigte, war nur noch Schlafen angesagt.
Als Es aufwachte, wurde es draußen schon wieder hell und die Mutter lag auf dem Bett daneben; sie hatte die erste S-Bahn genommen, und da das Kind vergessen hatte, die Haustür wieder abzuschließen, war sie ins Haus gekommen, ohne jemanden zu wecken. Die Mutter sagte "Du hast sicher Hunger - auf dem Tisch liegt ein Stück Brot und eine kleine Dose mit Sirup - Du kannst alles aufessen - ich habe schon gegessen".
Ja, - Hunger stillen, ein Dach über dem Kopf und andere unabdingbare Grundbedürfnisse waren die vorrangigen Sorgen des Alltags.
Die Eltern hatten zwar die Wohnungsmiete bis Kriegende bezahlt, und die Mutter versuchte seit ihrer Rückkehr nach Berlin im Januar 1946 zumindest ein Anrecht auf ihre Wohnungseinrichtung geltend zu machen; doch der Vermieter hatte die vom Krieg unversehrte Wohnung in der Kiepertstrasse wohl schon im Frühjahr 1945 ausgebombten Familienangehörigen mit allem Inventar zur Verfügung gestellt. Selbst ein Bitten um etwas Geschirr und Wäsche oder gar nach den Federbetten wurde boshaft verweigert.
Die Mutter vabschiedete sich frühmorgens schon wieder, "um auf die Ämtern" zu gehen, - Ansprüche auf Lebensmittelmarken und verschiedene Bezugsscheine mussten angemeldet werden, die neue Adresse mit einer "Ummeldebescheinigung" bestätigt werden und vieles, vieles andere; - und wo und wie Arbeit finden.
Da es drinnen fast so kalt war wie draußen, ging das Kind hinunter und erkundete die ruhige Straße mit kleinen unversehrten Einfamilienhäusern, es konnte leider keine Kinder zum gemeinsamen Zeitvertreib finden, gegen Mittag klingelte es bei der Hauswirtin, die sagte, dass es wieder Wasser gäbe, es stieg dann hinauf ins "stille Kämmerlein". In einem Einkaufsnetz lagen noch aus der Laube mitgebrachte Hutzeläpfel, die gern verspeist wurden.
Die Mutter kam am späten Nachmittag zurück, - betrübt und müde; hatte zwei Weckgläser mit dunklen blauroten Pflaumen dabei. Eines wurde mit großer Freude sofort gegessen, das zweite für den nächsten Tag verwahrt.
Dann zog sie ein Stück blauen Stoff und etwas Draht aus der Tasche, bastelte daraus mit einer Schere und wenigen Handgriffen einen Lampenschirm um die traurige Birne an der Decke und einen kleinen Vorhang vor die Dachluke. - Sie holte auch noch einen zweiten Schlüssel hervor, suchte in einem der beiden Koffer ein Band und legte es mit dem Schlüssel gebunden um den Hals des Kindes, das somit - wie viele andere auch - zum Schlüsselkind ernannt worden war.
*Beide Koffer sollen noch dem väterlichen Großvater gehört haben, waren somit recht alt, denn er war schon im I.Weltkrieg gefallen (siehe "Großvater, gefallen 1917"), die Koffer sind stets im Familienbesitz geblieben, - haben Jahre später das Kind beim Erwachsenwerden nach Frankreich und wieder zurück begleitet (siehe: "Berlin-Paris 1958 en train"). - Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Erinnerungen haben die Lederkoffer kaum Patina angesetzt, doch auf Reisen werden sie nicht mehr geschickt. - Allein das hohe Eigengewicht eines Holzgerüstes unter feinstem und doch robustem Leder schreckt heutige Reisende zurück. - Es gibt auf Bahnsteigen leider keine Gepäckträger mehr - obwohl....... gegen gutes Geld wünscht man sie sich häufig zurück - und Fluggesellschaften würden ein Aufgeld zu horrendem Kilotarif verlangen, das möglicherweise den Flugpreis überschreitet.
Hier das Foto des kleineren Koffers oben auf einem Schrank, - der grössere liegt schwer erreichbar in einer Treppennische unter vielen unnützen Dingen. - Die letzten Gepäckschilder sind nicht mehr vorhanden, doch die dazugehörigen Strippen immer noch nicht entfernt (Nostalgie ???).
Die hellen Lederkoffer waren in der spärlichen Kammer wundersame Gebilde, die noch die wenigen Schätze enthielten, die der Mutter geblieben waren. - Manchmal holte sie eines ihrer eleganten Kleider heraus und breitete es über die Koffer aus, um beim Anblick wohl von der im Krieg verloren Jugend zu träumen.
Die Eltern hatten sich 1936 im aufregenden Berlin der Olympischen Spiele kennengelernt, in einer Stadt, die sich für die fortschrittlichste der Welt hielt, aber damals sicher eine der lebendigsten aber auch selbstbewusstesten Metropolen war.
Man beteiligte sich nicht an der Freizeitgestaltung des staatlichen "KdF = Kraft durch Freude", dem größten Reiseveranstalter im Dritten Reich, sondern nahm den Jahresurlaub ganz privat, um an die Ostsee zu fahren; der Bruder* des Vaters hatte eine Apothekerstochter aus Rostock geheiratet und man feierte wilde Strandfeste in Warnemünde. - In den Jahren 1936 bis 1941 fuhr man mit Freunden ins winterliche Riesengebirge zum Skilaufen.
Der Vater arbeitete als Jurist im Innenministerium und vielleicht deshalb wurden beide ins neu "angeschlossene" Österreich eingeladen, um am 22. Oktober 1939 an einer BdM & HJ Hochzeit in Salzburg teilzunehmen. Dort war die Euphorie wohl zu groß, man passte nicht richtig auf, und neun Monate später - wurde ungewollt leider nur ein Mädchen geboren.
Die Mutter litt sehr darunter und war traurig in dieser ärmlichen Kammer hausen zu müssen, sie sagte leise, dass sie am nächsten Tag Geburtstag hätte. Das Kind fragte, ob man nicht einen so schönen Marmeladenkuchen in einer Bratpfanne machen könnte, wie vor ein paar Wochen bei der Tante Eri. Aber man hatte weder eine Bratpfanne noch eigenes Geschirr. Nur drei tiefe Teller, ein Messer und zwei Löffel sowie den kleinen alten Silberlöffel, den das Kind nicht hergeben wollte.
Das Kind bewahrte seit Weihnachten einen kleinen Strohstern auf; am nächsten Morgen als die Mutter schon fort war, holte es eine Sicherheitsnadel aus dem Nähetui und befestigte sie auf der Rückseite des Sterns. - Spätnachmittags kam die Mutter mit einem Kochtopf zurück, in dem sich Kartoffelsuppe und ein Lorbeerblatt befanden. - Ein Nachbar hatte ein wenig Holz gebracht, das neben dem kleinen Kachelofen gestapelt wurde. - -Schnell wurden Späne und Scheite in den Ofen gesteckt, angezündet, die Suppe aufgekocht und mit Vergnügen direkt am warmen Ofen verspeist, das Lorbeerblatt abgeleckt und aufgehoben.
Das Kind holte stolz den kleinen Strohstern als Geschenk für die Mutter unter der Schlafdecke hervor; diese besah ihn lächelnd, steckte ihn wie eine Brosche an und meinte, dass man diesen Schmuck zum Glück nicht versetzen könne. - Sie holte ein schönes Kleid und Stöckelschuhe aus dem Koffer, sagte, dass sie abends bei ihrer Freundin eingeladen wäre und ermahnte das Kind, nicht zu nahe an den warmen Ofen zu gehen und ja nicht die Feuerungsluke zu öffnen. (ganz kleiner Hinweis: man lies damals tagsüber und durchaus auch nachts Kinder alleine zuhause!)
Sie kam spät in der Nacht von ihrer Geburtstagsfeier zurück; die Freundin hatte auf dem Dachboden einen hohen Spiegel als Geschenk gefunden. Der Rahmen war alt und die Spiegelfläche schon sehr angelaufen, aber wenn man zwei, drei Schritte zurücktrat, konnte man sich von Kopf bis Fuß "bewundern".
Das Kind hatte sich schon lange nicht mehr so genau im Spiegel gesehen, - meistens hingen Spiegel über Waschbecken, aber das war zu hoch, um sich zu betrachten. Also hatte auch das Kind seine Freude an Mutters Spiegel. - Doch als es sich zum Spaß anlächelte, machte es vor Schreck den Mund schnell wieder zu. Obwohl es sich täglich brav die Zähne putzte, waren die Milchzähne in seinem Mund lauter schwarze Stummel.
Die Mutter nach dem "Warum" befragt, meinte, das wäre wirklich sehr hässlich, aber man hätte ihr erklärt, normalerweise würden später die richtigen Zähne weiß nachwachsen. - Das Kind verstand nun, warum die Mutter bei seinen "kleinen Küsschen" meist den Kopf wegdrehte; - und so war dem Kind das Lachen erst einmal vergangen, - auch beim Sprechen gewöhnte es sich an, lieber die Hand vor den Mund zu halten. - Auch in späteren Jahren wurde es nie ein lautes fröhliches Lachen, eher ein Lächeln über andere und sich selbst.
Zum Zähneputzen gab es während des Krieges noch Zahnbürsten, Zahnseife, Zahnpulver und auch schon Zahnpasta. Nach dem Krieg hatte man zwar die Zahnbürsten aufgehoben, jedoch Pülverchen und Pasten jeder Art fehlten; man versuchte es mit Wasser - manchmal mit Salz oder Kernseife, aber die einfachsten Dinge waren selbst mit Bezugschein Seltenheit geworden.
siehe ein Beispiel gegen die Wegwerfgesellschaft: SOLIDOX Zahnseife wurde nur verkauft gegen Rückgage einer leeren Packung
Um Lebensmittelkarten zu erhalten, hatte sich die Mutter beim Arbeitsamt registrieren lassen und wurde dann vom Amt als "Bauhilfsarbeiterin" eingeteilt, sie gehörte also kurze Zeit zu den Trümmerfrauen von Berlin.
14 Trümmerberge aus Kriegsschutt Das große Aufräumen, das unmittelbar nach der Kapitulation einsetzt, verändert die Berliner Stadtlandschaft nachhaltig. Denn auf dem eher platten Stadtareal entstehen nun Berge – Trümmerberge. 14 sind es, die ab Sommer 1945 aus dem Kriegsschutt errichtet werden.
Als am 8. Mai 1945 die Waffen endlich schweigen. sind die Zerstörungen gewaltig. Berlin ist eine Trümmerwüste, vor allem die Innenstadt ist komplett kaputt. Trotzdem – Berlin ist nicht tot, die Infrastruktur funktioniert nach wie vor. Nur Tage nach der Kapitulation fahren schon wieder die ersten Straßenbahnen, der S-Bahn-Verkehr wird aufgenommen, es gibt Wasser und stundenweise auch Strom.
Aber in der Stadt liegen Trümmer in gewaltigen Mengen – geschätzt sind das zwischen 70 und 90 Millionen Kubikmeter. Diese Trümmer müssen beseitigt werden. Rund 245.000 Gebäude gibt es in der Stadt. Von ihnen sind 27.700 total kaputt (11,3 Prozent) und 20.100 (8,2 Prozent) so schwer getroffen, dass ein Wiederaufbau nicht mehr in Frage kommt.
Firmen, die die Aufträge zur Trümmerbeseitigung in den deutschen Städten erhielten, führten die Trümmerfrauen im Arbeitsbuch als Bauhilfsarbeiterin, Trümmerarbeiterin oder Arbeiterin für Enträumungsarbeiten. Die hauptsächliche Arbeit bestand im Abriss stehen gebliebener Gebäudeteile mit Handwinden oder Spitzhacken, selten kam schwerere Technik zum Einsatz. Nach dem Abriss mussten Wandteile soweit zerkleinert werden, dass die Ziegelsteine, ohne diese zu beschädigen, abgetrennt werden konnten, die dann für Reparaturen oder Neubauten wiederverwendet werden konnten. Die Ziegelsteine wurden in einer Personenkette von Hand zu Hand aus den Ruinen an den Straßenrand weitergereicht, dort wurden sie auf Holzböcken oder anderen festen Unterlagen abgelegt und mit einem Maurer- oder Putzhammer von den Mörtelresten befreit. Danach wurden die gesäuberten Steine aufgeschichtet. Die Vorgaben waren: 16 Stück in einer Fläche (4 × 4), jeweils 12 Schichten übereinander und abschließend ein Mittelhäufchen von 8 Stück, sodass Stapel von 200 Steinen entstanden, deren Standsicherheit gewährleistet war und die Abrechnung der Leistung sich übersichtlich gestaltete. Zum Wiedereinsatz kamen zusätzlich halbe Ziegel, Balken, Stahlträger, Herde, Waschbecken, Toilettenbecken, Rohre und anderes. Schutt wurde von den Frauen auf Schubkarren, Pferdewagen, Feldeisenbahnen (den Trümmerbahnen), Lastwagen oder Arbeitsstraßenbahnen abtransportiert. Die nicht mehr verwendbaren Ziegelsteinbruchstücke kamen auf große Lagerflächen, wo dann die Trümmerberge wuchsen, oder sie wurden in Ziegelmühlen (die auch Trümmeraufbereitungsanlagen, Brecheranlagen, Trümmerverwertungsanlagen genannt wurden) zerkleinert, die häufig in der Nähe der Ruinengrundstücke aufgebaut wurden. Das entstandene Mehl oder Granulat kam beim Zuschütten von Bombenkratern, im Straßenbau, beim Ausbau von Wasserstraßen oder bei der Herstellung neuer Mauersteine zum Einsatz. (Quelle : Berliner Zeitung 27.05.2015 u.a.)
Im Frühjahr 1946 waren rund 25.000 bis 30.000 Frauen
zu Enttrümmerungsarbeiten eingeteilt
Trümmerfrauen 1946 in Berlin, Jägerstraße - Foto Bundesarchiv
Die Hauswirtin wohnte im Erdgeschoss, sie war eine robuste aber sehr stille Frau. Sie antwortet auf den Gruß des Kindes nur mit einem Nicken. Es war überhaupt sehr still in diesem Haus, - das weißhaariges Ehepaar in den beiden Zimmern des ersten Stocks hörte man nur, wenn es sich im Badezimmer befand.
Mutter und Kind durften die Toilette in diesem Badezimmer mitbenutzen aber zwischen 20H abends und 08H morgens nicht mit der daneben stehenden Wasserkanne spülen, da die Rohre seltsame Geräusche abgaben.
Es gab natürlich auch Sperrstunden oder Versorgungsschwierigkeiten für Trinkwasser. Aber im Keller war ein alter Ausguss mit einem Wasserhahn für Brauchwasser. Dort gab es fast immer Wasser, weil es wohl aus dem Speicher eines Wasserturms kam und nicht gepumpt werden musste. Die Mutter als junge Frau hatte sich verpflichtet, stets genügend volle Kannen für die Spülungen im Haus hoch zu holen, da sie aber selten zuhause war, gab es dann auch eine kleinere Kanne fürs Kind. Für die gleiche Menge Wasser ausreichend zur Spülung musste ES dann eben zweimal laufen.
In einem Kellerraum mit Fenster lebte noch ein graues fast unsichtbares ältliches Fräulein. - In diesem stillen Haus war der Eindruck, als ob die Zeit ausgeschaltet war und niemand mehr auf bessere Zeiten wartete.
Die Mutter ging früh aus dem Haus. Bei gutem Wetter durchstreifte das Kind die um liegenden Wege und Straßen, im Gegensatz zum Bodensee sah man draußen keine Kinder zum Spielen. - Bei schlechtem Wetter blieb es in der Kammer; die Freundin der Mutter hatte ein paar alte, schon ein wenig ausgemalte Malbücher gefunden und auch drei oder vier sehr abgenutzte Buntstiftstummel dazu.
Die schöne Puppe hatte man in Pommern vergessen und seitdem konnte der Wunsch danach nicht erfüllt werden. - Eines Abends hielt die Hauswirtin der Mutter eine kleine Zigarrenkiste gefüllt mit alten Puddingpulver-Tütchen und eine kleineSchere hin und meinte "fürs Kind". Es war ein fabelhaftes Schatzkästchen!
Dank an
das Wirschaftswundermuseum/Puppenhausmuseum
& Firma DOEHLER GmbH, Darmstadt
für die Bereitstellung der Bilder
Puppen für selbsterfundene Träume - zwei Mädchen und ein Junge mit vollen Kleiderschränken. - Die mitgelieferte Schere war schon etwas stumpf und beim Ausschneiden mussten vorsichtig auch die Laschen ausgeschnitten und umgeklappt werden, damit die papierene Kleidung angelegt und je nach Erlebnis gewechselt werden konnte.
Viele herrliche Stunden für erdachte Geschichten; das Kind hatte drei neue Freunde, mit denen es seine Geheimnisse teilen konnte.
Nur wenige Erinnerungen an das Frühjahr 1946 sind geblieben. - Damals hieß es noch: ES erinnert sich an seine Kinderjahre, - heute: ES erinnert seine Kinderjahre. .............................Vielleicht weigern sich nach so vielen Jahren die zuständigen Synapsen nach neuen Regeln zu tanzen, um den Gedanken Beine zu machen!
Es ist auch erstaunlich, wie sich Wörter und Redewendungen während einer Lebenszeit ändern. In der Kindheit hatten wir "zu Weihnachten" einen Baum (oder auch nicht) und "zu Ostern" bunte Eier (oder auch nicht) - nun wird alles globalisiert und angeglichen: "on Christmas" wird "an Weihnachten" oder auch "an Ostern".
Im stillen Kämmerlein und auch draußen vor der Tür ging der Winter farblos zu Ende. In den Randgemeinden von Berlin gab es früher kleine Einfamilienhäuser mit bunten Gärten. Jetzt wohnten hier auf engstem Raum freudlose Flüchtlinge. In den Gärten keine farbenfreudigen Blumen mehr, sondern nahrhaftes Gemüse, das vor Schädlingen und anderen hungrigen Dieben eifrig geschützt werden musste.
Das Kind hatte im Vorjahr einen blumenprächtigen Frühling im Allgäu erlebt, hier am Rande der Stadt gab es keine Wiesen und Weiden, die mit süßen Düften zu neuem Leben erwachten. - Ende April 1946 wärmte zwar die Sonne, aber Berlin zu Ostern war eine traurige Stadt in der noch kein Friede in die Herzen eingezogen war.
Ostersonntag entdeckte das Kind auf der Treppe ein kleines Körbchen mit zwei bunt bemalten Eiern. Die Mutter bedankte sich artig bei der Hauswirtin; - diese sagte jedoch nur kurz "das war der Hase" Daraufhin fing das Kind an, brav an den Osterhasen zu glauben.
Die Häuschen der Siedlung waren von kleinen Nutzgärten umgeben, die im Frühling von emsigen Gärtnern bearbeitet und auch Tag und Nacht vor bösen hungrigen Zeitgenossen bewacht wurden. Wer noch Saatgut hatte, teilte es nur durch erfolgreiche Tauschgeschäfte.
Um Schnecken jeder Art loszuwerden, hatte man früher zum Schutz der Aussaat und der kleinen Setzlinge auf die Beihilfe von Igeln, Schwalben und Amseln gehofft, das konnte das mühselige Absammeln mit der Hand einschränken. - Da man jetzt aber selber hungrig war, wurden Weinbergschnecken eifrig als Eiweiß für die Suppe gesammelt.
An die Nacktschnecken traute man sich nicht heran, denn sie wurden sogar vom Igel verschmäht, nur die hässlichen Kröten fraßen sie. Aber der große Hunger jagte auch die Igel in den Kochtopf, nur die Erdkröten wehrten sich erfolgreich mit ihrem Gift.
Das Kind durfte nicht in den Garten, also ließ die halbhohe Mauer nur erahnen, dass dort viel schmackhaftes Grünzeug gezüchtet wurde. Diese Mauer war wohl noch aus der Vorkriegszeit, ein Zaun aus Holz hätte die beiden letzten Winter nicht überstanden; er wäre entweder für den Eigenbedarf in den Ofen gewandert oder von frierenden Dieben abgesägt worden. Am Ende des Grundstücks ein Holzschuppen mit vergitterter Tür, darin wurden Kaninchen für den Kochtopf oder auch als Tauschware vermutet.
Die meisten Gärten waren wie Festungen ausgebaut, deren Mauern oben zusätzlich spitze Glasscherben trugen. All diese Menschen waren so misstrauisch geworden, dass man sich kaum mehr ein Lächeln schenkte. - Angst allein macht nicht böse, aber vielleicht die Angst vor dem Hunger.
Der rückblickenden Erinnerung ist dieses Berliner Frühjahr entfallen, - vielleicht blieb da noch ein wenig Grau mit fahler Sonne; - die laue Frühlingsluft und die duftende Blütenpracht vom Vorjahr gehörten nur noch zum Bodensee.
Dann begann endlich wieder die "Barfußzeit" und nur zu gerne wurden die gebastelten schweren Holzsandalen zur Seite gestellt. - Am Bahndamm sah das Kind wie Brennnesseln geerntet wurden, es "verbrannte" sich gerne die Finger und brachte die Beute nach Hause. Die Suppe daraus füllte den Magen und kein Kind kam auf die Idee, dass Spinat nicht schmecken könne.
Der begehrte Löwenzahn wurde immer seltener, denn gierige Leute rupften nicht nur alle neuen Blätter immer wieder ab, so dass die Pflanze nicht mehr zum Blühen kam, um sich als "Pusteblume" zu vermehren, sondern viele rotteten ihn sogar mit Stumpf und Stiel aus, indem sie die Wurzeln ausgruben und daraus einen Ersatzkaffee rösteten.
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Den Müttern jener Zeit ist zu danken, dass sie ohne zu murren und mit fast allen Mitteln den Hunger der Kinder zu stillen versuchten; häufig indem sie selber bei Tisch erklärten, schon gegessen zu haben. - Aber an den richtigen schlimmen Hunger kann sich das Kind nur für den schrecklichen Winter 1946/1947 erinnern.
Schon seit Kriegsende mangelte es fast Allen immer mehr an Vielem, so dass ein Beschaffungkampf besonderer Art entstand; das Kind hatte jedoch von solchen Schwarzmärkten keine Ahnung; auf seinen Streifzügen am Rande der Großstadt es traf nur wenige Leute, die meist mit leeren Augen nur nach Essbarem am Wegrand suchten. Das Einkaufen war jedoch auf Güter beschränkt, die es auf Bezugscheine oder Lebensmittelkarten gab.
Brot und Suppe: ein Festschmaus, wenn der Hunger ständiger Gast ist (Quelle: „wwwMenschen Schreiben Geschichte.at Foto: Johann Krivda)
Das Kind kannte diese Verteilung schon seit es denken konnte, nur es wusste, dass jetzt immer weniger verteilt wurde; die Mutter hatte dem Kind die Zuständigkeit für das Brot übertragen und legte dann morgens die abgetrennten Marken auf den kleinen Tisch.
Zum Bäcker ging es in die Kiepertstrasse, nur ungefähr einen Kilometer von der Messmerstrasse entfernt. Es gab dort langes dunkles Roggenbrot, von dem auf dem hohen Ladentisch das Stück abgeschnitten wurde, das dem Gewicht der zugeteilten Brotmarke entsprach.
Man erhielt rationierte Lebensmittel in Geschäften und Gaststätten nur, wenn man die entsprechenden Lebensmittelkartenabschnitte, die Marken, abgeben konnte und die vom Händler geforderte Summe bezahlte. Die Marken waren nach einzelnen Lebensmitteln aufgeteilt (wie oben dargestellt); beispielsweise konnte man mit Brotmarken nur Brot erwerben, aber mit Fleischmarken auch Fisch. Oft wurde mit Lebensmittelmarken daher auf dem Schwarzmarkt Tauschhandel betrieben. Gaststätten gaben auf der Speisekarte an, wie viele Marken welcher Art der Gast für das jeweilige Gericht abzugeben hatte.
Als es noch die große Gefahr für Alle gab, sei es durch Bombardierung oder auf der Flucht, halfen sich die meisten Menschen gegenseitig. - Nun war aber die große Not und der Hunger dauerhaft eingetreten und kein Ende absehbar, dadurch wurden viele selbstsüchtig und ungerecht gegen ihre Mitmenschen; Habgier, Missgunst und Brotneid gehörte zum normalen Verhalten.
Dass man überall Schlange stehen musste, war ja Gewohnheit für alle. Das Kind stellte sich immer brav hinten an mit den Marken und dem Kleingeld in der Hand. Doch viele Erwachsene hatten wenig Geduld mit Kindern und am Ladentisch angekommen, wurden sie immer wieder zurückgeschubst.
Obwohl der Kopf des Kindes kaum den Ladentisch überragte, hatte die Bäckersfrau eines Tages die ungerechte Schubserei bemerkt: "Lasst doch die Jöre zufrieden, die hat jenauso Recht uff ihr Brot wie alle andern"; sprach's und schnitt das zugeteilte Stück Schwarzbrot ab: "nu, weil de so brav jewartet hast, kriste noch ne Schrippe obendruff"; - und legte ein strahlend weißes Brötchen auf das schwarze Brot.
Das Kind bekam ganz große Augen und knickste brav, weil ihm die Worte für soviel ungewohnte Freundlichkeit fehlten. Mit den Schätzen im Brotbeutel eilte es schnell nach Hause, wartete brav bis zum Abend, um die heimkehrenden Mutter mit einem Marmeladenrest zum kleinen Schrippen-Festschmaus einzuladen.
An der Fortsetzung 1946-1950
langsam und vorsichtig
wird gebastelt
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